Koalitionsverhandlungen: „Eine Gefahr für Europa“
Hierzulande werden die möglichen Folgen einer Ampelkoalition vor allem durch die nationale Brille gesehen. Das Ausland hingegen hat einen weiteren Blick. Mit einem FDP-Finanzminister namens Christian Lindner, so warnt beispielsweise die Schweizer Wochenzeitung WOZ, drohen vier Jahre Rückschritt: Rückschritt für die soziale Gerechtigkeit, für Europa und für den Kampf gegen die Klimakrise.
Es ist ein ungemütlicher Gedanke: Möglich, dass FDP-Chef Christian Lindner aus den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und seiner Partei als neuer deutscher Finanzminister hervorgehen wird. Damit würde er künftig nicht nur über Deutschlands, sondern auch über Europas wirtschaftliche Zukunft entscheiden: Wer auf dem Geldkoffer sitzt, hat die größte Macht.
Der 42-jährige Politiker aus Nordrhein-Westfalen spricht in seinen Maßanzügen gerne von Leistung, die sich wieder lohnen müsse, von Risiko und Innovation. Sein Kernanliegen ist jedoch ein anderes: keine höheren Staatsschulden, keine Steuererhöhungen. Diese Forderungen hat Lindner im Wahlkampf gefühlte tausend Mal wiederholt. Der studierte Politologe interessiert sich – in deutscher, ordoliberaler Tradition – mehr für in Gesetz gegossene protestantische Moral als für makroökonomische Zusammenhänge.
Welchen Schaden dieser Dogmatismus anrichten kann, zeigte sich unter CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble nach der Finanzkrise 2008. Die Milliardenrettungen der Banken, der Wirtschaftseinbruch und die Konjunkturpakete ließen damals in ganz Europa die Schulden auf neue Höchstmarken klettern. Zusammen mit CDU-Kanzlerin Angela Merkel tat Schäuble alles, um diese möglichst zu begrenzen; nicht nur in Deutschland, sondern als mächtigster Finanzpolitiker der EU auch in den anderen Mitgliedsländern.
Europas Schulden wurden nicht mit Schuldenschnitten gesenkt, die bei deutschen Banken für riesige Ausfälle gesorgt hätten, und auch nicht mit höheren Steuern für die Profiteur:innen der Rettungsmilliarden. Schäuble verlangte Austerität. Öffentliche Stellen mussten gestrichen, Löhne gestutzt, Sozialleistungen gekürzt werden. Die einfachen Leute sollten die Krise bezahlen. Länder, die auf Geld des EU-Rettungsschirms zurückgriffen, wurden von Schäubles EU zur Austerität gezwungen.
Das Ergebnis: Laut Daten der World Inequality Database stagniert die Ungleichheit seither auf hohem Niveau, in den meisten südlichen Ländern ist sie weiter gestiegen. Auch die Schulden sind in vielen Ländern wie Spanien, Italien oder Frankreich weiter gewachsen – bevor sie in der Coronapandemie regelrecht explodierten. Schließlich hat die Politik vielerorts einen rechten, antieuropäischen Populismus befeuert, der spätestens seit dem Brexit die Zukunft der EU infrage stellt.
Das große Umdenken
In den letzten Jahren hat sich die globale Wirtschaftsdebatte in Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), an Universitäten und in der Wirtschaftspresse jedoch verschoben. Ungleichheit wird immer mehr als Problem anerkannt. Nicht nur, weil sie ungerecht ist und den Populismus anheizt, sondern auch, weil Investor:innen mit dem Kapital, das sich zunehmend bei ihnen konzentriert, an die Börsen gehen – was zu gefährlichen Finanzblasen führt –, statt es real in Firmen zu investieren. Wie fast überall sind die gesamtwirtschaftlichen Investitionen laut Statistiken auch in Deutschland seit Jahrzehnten rückläufig.
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Die Regierungen, so fordern immer mehr Stimmen, sollen sich einen Teil dieses Kapitals leihen (zu derzeit rekordtiefen Zinsen) oder es besteuern, um es selber zu investieren: in öffentliche Dienstleistungen, Wohnungen, Forschung und vor allem in den Kampf gegen die Klimakrise. Nebst dem Ausstieg aus der fossilen Energie wird es riesige Summen brauchen, damit sich die Klimaziele erreichen lassen. Angetrieben von Chinas wirtschaftlicher Konkurrenz will etwa US-Präsident Joe Biden Billionen investieren.
SPD-Mann Olaf Scholz, der Deutschlands nächste Koalitionsregierung anführen soll, ist für viele Linke alles andere als der Wunschkandidat. Er war einst Verfechter der armenfeindlichen Hartz-IV-Sozialreform von Exkanzler Gerhard Schröder, der ihn 2002 zum SPD-Generalsekretär machte. Wie Biden ist Scholz jedoch ein politischer Handwerker, der sich vom Zeitgeist treiben lässt. Unter ihm scheint eine Wende möglich.
Als Finanzminister in der großen Koalition unter Merkel hat er mit Frankreich erfolgreich für einen globalen Mindeststeuersatz von fünfzehn Prozent für Konzerne gekämpft – wobei die Länder des Globalen Südens freilich weitgehend vergessen gingen. 2020 hat er geholfen, einen europäischen Coronahilfsfonds für Mitgliedsländer zu schaffen, mit dem die EU erstmals gemeinsame Schulden aufgenommen hat. Und anders als Schäuble führte er sich etwa gegenüber Italien nicht wie ein Schulrektor auf.
Im Wahlkampf versprach Scholz einen Mindestlohn von zwölf Euro, einen höheren Spitzensteuersatz, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine gerechtere Erbschaftssteuer sowie teilweise den Ersatz von Hartz IV durch ein Bürgergeld. „Reiche wie ich sollen mehr Steuern zahlen“, sagte Scholz. Er warb dafür, die EU-Schuldenregeln in einen „Nachhaltigkeitspakt“ umzuwandeln, der mehr Investitionen erlauben würde. Ganz ähnlich tönte bis vor kurzem der Kopräsident der Grünen, Robert Habeck, der sich nun mit Scholz und Lindner auf ein Regierungsprogramm einigen will. Er plädierte für die Lockerung von Deutschlands Schuldenbremse, um Investitionen im Kampf gegen die Klimaerhitzung möglich zu machen.
Zwei Schulbuben
Diese Ideen erlitten jedoch vor zwei Wochen, als die drei Parteien in Berlin vor den Medien die vereinbarten Eckpunkte für ihre Verhandlungen präsentierten, einen herben Rückschlag. Zwar werden die zwölf Euro Mindestlohn kommen. Die Vermögenssteuer und Steuererhöhungen sind jedoch vom Tisch. Zudem sollen weder die Schuldenregeln in Deutschland noch jene in der EU angetastet werden. Die FDP wird sich in den Verhandlungen vielleicht noch etwas bewegen – aber nicht viel.
Lindner hat seinen Trumpf als Königsmacher ausgespielt. In der ARD-Sendung „Anne Will“ saßen am Sonntag Scholz und Habeck wie zwei Schulbuben da, die der Lehrerin zu erklären versuchen, warum sie auf dem Pausenhof Süssigkeiten verteilt haben.
Wird statt Lindner Habeck Finanzminister – was dieser möchte –, könnte er zusammen mit Scholz als Bundeskanzler noch einiges herausholen. Falls sich Lindner jedoch auch hier durchsetzt, stehen Deutschland und Europa vier Jahre des Rückschritts bevor. Die Ungleichheit will Lindner durch noch mehr Markt bekämpfen, für die dringenden Investitionen in die Klimawende vertraut er auf Privatinvestor:innen, die er mit finanziellen Anreizen zu gewinnen hofft.
Wohl wird auch Lindner sehen, dass vierzig Jahre genau dieser Politik zu Ungleichheit, Schulden, Negativzinsen, Finanzblasen, Populismus und in die sich abzeichnende Klimakatastrophe geführt haben. Doch in seinem Weltbild wurde die Politik eben noch nicht radikal genug durchgesetzt.
Nicht nur deshalb wird der FDP-Mann alles tun, damit die Staatsschulden und die Steuern für Konzerne möglichst tief bleiben. Ebenso würde der smarte Selbstdarsteller die große Politbühne in Brüssel nutzen, um seinen Aufstieg mit einer scharfen ideologischen Linie voranzutreiben. Auch deshalb, weil er seinen Wähler:innen zu Hause beweisen müsste, dass er sich von SPD und Grünen nicht vor den Karren spannen lässt.
Die Folgen wären für Deutschland wie auch für Europa gravierend: Ein Jahr nach Beginn der Pandemie liegen die Schulden in Frankreich, Spanien, Portugal oder Italien gemessen an der Wirtschaftsleistung bei über 100 Prozent. Erlaubt wären laut EU-Stabilitätspakt 60 Prozent, womit selbst Deutschland mit 72 Prozent darüber liegt. Vor wenigen Tagen hat die EU-Kommission deshalb eine Reform des geltenden Pakts lanciert, um ihn an die neuen Realitäten anzupassen.
Ein Finanzminister Lindner, der auf den bestehenden Pakt pocht, würde für Europa weitere vier Jahre Austerität bedeuten. Angesichts des Steuerwettbewerbs fehlt den Ländern der Spielraum, um durch höhere Steuern Geld einzutreiben. Lindner stünde in der EU auch der Aufnahme von weiteren gemeinsamen Schulden im Weg. Damit würde sich nicht nur die soziale Ungleichheit weiter verschärfen, sondern auch der antieuropäische Populismus etwa in Italien, der die EU zu zerreißen droht. Schäuble war immerhin ein überzeugter Europäer, Lindner ist höchstens ein halber.
Vor allem ist es ein Rätsel, mit welchem Geld Europa unter einem deutschen Finanzminister Lindner die Klimawende schaffen möchte. Falls es Scholz und Habeck nicht gelingt, Lindner zu verhindern, ist diese Regierung gescheitert, bevor sie ihre Arbeit aufnimmt.
Text: Yves Wegelin. Der Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung WOZ, die ihn seemoz freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Foto: Pixabay