Anna Karenina „light“

Anna Karenina

Seit vergangenen Freitag läuft im Stadttheater Monika Kraushaars Inszenierung von Tolstojs „Anna Karenina“. Unsere Autorin war bei der Premiere und sehr angetan von der Performance der Darsteller*innen. Die Stilmittel der Regisseurin hätten allerdings von den großen Gefühlen eher abgelenkt. Der Inszenierung hätte ein bisschen Entschleunigung gutgetan. Nichtsdestotrotz mache die Darbietung Lust auf mehr Tolstoj.

Ja, ich gebe es zu. Ich habe sie nicht gelesen, die 1000-seitige Romanvorlage für Armin Petras‘ Bühnenfassung von „Anna Karenina“. Die erste gute Nachricht: Auch wenn man Tolstojs Klassiker nicht gelesen hat, kann man der Kondensation auf 2:15 Stunden in Mona Kraushaars Inszenierung am Konstanzer Stadttheater folgen. Bei Roman-Dramatisierungen ist das keine Selbstverständlichkeit. Dabei fordert der immense Umfang des Romans auch Petras heraus – eine Aufgabe, die der Autor nicht in Gänze meistert. Über das Maß eines Gesellenstücks kommt das Bühnenbild dagegen deutlich hinaus. Die in Vorder- und Hinterraum eingeteilte Bühne (Katrin Kersten) bietet eine passende Kulisse für den Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert. Vorne sind die Wände mit türkiser Brokat-Tapete bespannt und der Raum hell ausgeleuchtet. An den Seiten steht antikes Sitzmobiliar. Wir befinden uns in einer früheren Zeit, in einer reichen, kalten Umgebung. Im hinteren Teil ist zunächst alles in schwarz gehalten. Auf einem drehbaren Podest befindet sich in der Mitte eine Wendeltreppe, die auf halber Höhe endet. Noch wissen wir nichts über die persönlichen Abgründe der Figuren, die sich noch auftun werden, außer, dass sie – wie wir alle – nach Glück, Liebe und Erfüllung streben.

Überzeugende Besetzung

Der Einstieg in das Stück gleicht einer Szene aus einem romantischen Hollywood-Weihnachtsfilm. Wo könnte diese nicht besser verortet sein als auf einer Eislaufbahn? Der unscheinbare Gutsbesitzer Lewin (Ioachim-Willhelm Zarcuela) kommt extra nach Moskau, um die 19-jährige Kitty (Pauline Werner) beim unbeholfenen Schlittschuhlauf zu bestaunen und ist hin und weg von ihrer Erscheinung. Trotz seiner Befürchtungen, abgewiesen zu werden, macht er ihr einen Heiratsantrag, den sie sogleich geschmeichelt, aber entschieden ablehnt. Ioachim-Willhelm Zarcuela macht dabei eine glänzende Figur als unsicherer, aber liebenswerter Lewin – so glänzend offenbar, dass er beim Schlussapplaus Blumen aus dem Publikum zugeworfen bekommt. Pauline Werners kaltschnäuzige, zickige und spätpubertäre Kitty ist das passende Gegenstück zum zaghaften Lewin. Werner gelingt es in ihrem Spiel, eine gewisse süffisante Spannung zwischen dem gesellschaftlichen Korsett ihrer Figur und dem gegenwärtigen Ideal einer selbstbestimmten jungen Frau aufzubauen. Nur manches Mal ertappe ich mich angesichts Werners Sprachmelodie dabei, dem Protest der aufblühenden Schönheit Kitty ein „Ey, Alter!“ anfügen zu wollen.

Kittys ältere Schwester Dascha (Tülin Pektas) hingegen hat sich den gesellschaftlichen Erwartungen gefügt. Verbittert, weil ihr Mann Stefan (Thomas Fritz Jung) sie mit einer jüngeren Frau („Sie sieht genauso aus wie ich vor 15 Jahren“!) – oder einer ganzen Heerschar – betrügt und obendrein pleite ist, versucht sie dennoch nach außen das Bild einer intakten Ehe zu wahren und Kitty in die Gesellschaft einzuführen – sprich, unter die Haube zu bringen. Thomas Fritz Jung und Tülin Pektas liefern eine überzeugende Darstellung des unsteten Haudraufs und seiner, ihrer vergänglichen Schönheit schmerzhaft bewusst gewordenen, Ehefrau. Die mangelnde Zuneigung (Dascha: „Manchmal möchte ich ihn umbringen!“) spielen sie auf Distanz und ohne viel Worte. Dabei zeigt die Inszenierung eine kleine Stärke: Ineinandergreifende und teils parallel gespielte Szenen mit Dascha und Stefan – ohne Interaktion der Eheleute – zeigen zwei unterschiedliche Lebenseinstellungen in scharfem Kontrast. Sie reden viel mehr über- als miteinander.

Der Offizier Wronski (Sven Dolinski) scheint für Kitty eine erfolgversprechende Partie zu sein. Doch die beiden Schwestern haben nicht damit gerechnet, dass der schneidige Wronski an einem Ballabend statt Kitty Daschas schöner Schwägerin Anna (Kristina Lotta Kahlert), der Frau, „die alle lieben“, verfallen wird. „Ich muss da sein, wo Sie sind. Ich kann nicht anders“, erklärt er Anna, die ihn von der Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens überzeugen möchte. Doch auch sie wird schwach und verfällt dem Reiz der leidenschaftlichen Liebe. Ihr Mann, Staatsminister Karenin (Ingo Biermann), mit dem sie einen 7-jährigen Sohn hat, sieht sein politisch feingetuntes Image bröckeln und seine Feinde die Messer wetzen. Da stellt er sich schon mal vor Verzweiflung im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf. Ingo Biermann beweist, dass er auch im Kopfstand noch schauspielern kann, inklusive Gestik. Chapeau! Kristina Lotta Kahlert gibt die Anna leidenschaftlich, einnehmend und so, dass man als Zuschauende nicht so recht weiß, ob man sich jetzt für ihr Glück freuen oder sie für ihre Rücksichtslosigkeit verachten soll.

Viel Gefühl – noch mehr drumrum

Kraushaars Inszenierung bietet ein Stück rund um die vielfältigen Aspekte der Liebe: Verliebtsein, Geliebtwerden, Eifersucht, Hass… Große Gefühle brauchen Raum, um zu wirken. Daher hätten der Inszenierung über weite Stellen weniger Tempo und mehr Ruhe gutgetan. Die sonst sehr gute schauspielerische Leistung tritt teilweise hinter dem fahrig-aufgekratzten Grundton der Darbietung zurück. Gehetzte Sprache, hektische Bewegungen und ein Übermaß an Körperlichkeit steigern die Emotionalität schon kurz nach der liebevoll-vorsichtigen Eröffnungsszene auf Höchstniveau; und fahren leider bis zum Schluss kaum herunter. Die starken, beeindruckenden Szenen des Stücks sind die, in denen die Regie vom Gas geht und einzelnen Charakteren Raum zur Entfaltung einräumt. Die musikalische Untermalung, die zumeist von den Schauspieler*innen selbst durch Gesang, Klavier- oder Gitarrespiel kommt, ist selten nötig und überlädt die Situationen mehr als dass sie sie unterstützt. Kurze repetitive Gesangspatterns, die im Hintergrund dudeln, und aufblasbare Requisiten werden in letzter Zeit schablonenhaft an diverse Stücke angelegt und machen diese verwechselbar. Die ständige Bühnenpräsenz aller Schauspieler*innen fügt so mancher Szene zwar eine Beobachterperspektive hinzu, trägt aber zur Ablenkung bei. Gleichsam trifft dies auf den Einsatz von Kameras zu, die live mitlaufen und das Aufgenommene in Echtzeit an die Wand projizieren. Vielleicht ist die Reizüberflutung aber auch gewollt, um die Ruhe am Ende mit einem großen ‚Wumms‘ einkehren zu lassen.

Bühnenfassung und Roman

Auch wenn ich das Buch nicht gelesen habe, so hat mich natürlich trotzdem interessiert, wie die Umsetzung von Karenina-Kenner*innen aufgenommen wurde. So berichtete mir ein Zuschauer, dass er das Stück für gelungen halte und auch die Texte nah am Original seien. Die Lektüre des Romans legte er mir wärmstens ans Herz. Es sei ein tolles Buch. Ein anderes Zuschauerpaar hingegen hat eine nette kitschige Liebesgeschichte gesehen, die aber weit unter der Tiefgründigkeit von Tolstojs Werk läge. Vor allem Lewin sei auf einen hässlichen, einfältigen Menschen reduziert und der autobiographischen Note beraubt worden. So scheiden sich die Geister – doch auch an diesem Theaterabend war Zarcuelas Lewin ein Lichtblick. Auch das Paar war begeistert von dem Roman und meinte, ich müsse ihn unbedingt lesen. Ich werde wohl um die Lektüre nicht herumkommen und, wer weiß, vielleicht erkenne ich auch etwas von Kraushaars Anna Karenina im Buch wieder. Das ist die Stärke von Romandramatisierungen: Sie bieten einen Vorgeschmack und machen Lust auf mehr. Für sich allein ist die Konstanzer Inszenierung nur für den einen oder anderen Lacher gut und lebt von der Stärke des Ensembles.

Text: F. Spanner
Bild: Bjorn Jansen
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