Hat Grass womöglich doch recht?

„Günter Grass gebührt Dank für seine mahnenden Worte“, forderte Jürgen Grässlin vor den Werkstoren von MTU in Friedrichshafen und verpasste damit dem diesjährigen Friedensmarsch am Bodensee eine aktuelle Note. Wie hier erklärten sich auch auf 80 anderen Ostermärschen in gut 100 deutschen Städten viele Redner solidarisch mit Grass, der mit seinem Gedicht über die Politik Israels seit Tagen in der Kritik steht. Kritisiert wurde auf den Kundgebungen vielmehr die „Kriegstreiber-Politik“ Israels.

In Friedrichshafen wetterte Grässlin gegen die Waffenexporte aus Deutschland für Israel: „Der Lübecker Literaturnobelpreisträger hat zu Recht auf die Gefahr hingewiesen, dass Israel von Deutschland mit U-Booten aus- und hochgerüstet wird. Es finden sich MTU-Dieselmotoren in Korvetten, Patrouillenbooten und U-Booten der israelischen Marine. Das vierte und fünfte U-Boot sind bei Howaldtswerke-Deutsche Werke (HDW) nahezu vollendet. Der Vertrag für das sechste U-Boot des Typs Dolphin wurde seitens der deutschen und der israelischen Regierung im März 2012 unterzeichnet. Dieses und andere U-Boote wären durch Umrüstung atomwaffenfähig. Und nebenbei: Diese U-Boote werden durch den deutschen Steuerzahler mitfinanziert“

Der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Peter Strutynski, erklärte in Stuttgart: „Nicht Günter Grass gehört an den Pranger, sondern diejenigen Politiker, die weiter an der Eskalationsschraube im Nahen und Mittleren Osten drehen, indem sie Iran mit Wirtschaftssanktionen immer mehr in die Enge treiben.“ Dass Israel über 250 Atomsprengköpfe besitze, dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten sei sowie keine Kontrollen zulasse und offen das Für und Wider eines „Präventivkriegs“ gegen Iran diskutiere, sind Tatsachen, die Günter Grass auf seine Weise ins rechte Licht gerückt hat“.

Waffenexporte in Diktaturen

Vor fast 400 Demonstranten am MTU-Werkstor in Friedrichshafen beschrieb Jürgen Grässlin, Träger des Aachener Friedenspreises 2011 und „Deutschlands prominentester Rüstungsgegner“ («Der Spiegel»), wie weitreichend die MTU-Exporte vom Bodensee gerade in autoritäre Staaten sind: „MTU-Dieselmotoren finden sich in Patrouillenbooten für die Marine Ägyptens, Korvetten und Patrouillenboote für Bahrain, U-Boote, Fregatten und Patrouillenbooten für Indonesien, Korvetten und Patrouillenboote für Saudi-Arabien, U-Boote, Zerstörer, Fregatten, Patrouillenboote und Zerstörer für Südkorea, ein Flugzeugträger, Fregatten und Korvetten für Thailand und Korvetten und Patrouillenboote für die Vereinigten Arabischen Emirate“.

Der „unterschätzte Rüstungsriese“ MTU, genauer die Daimler/Rolls-Royce-Gesellschaft Tognum, zählt zu den weltweit führenden Produzenten von Dieselmotoren und Antriebssystemen für zivile und militärische Schiffe, schwere Land- und Schienenfahrzeuge und Industrieantriebe. Im Jahr 2008 erzielte das Unternehmen einen Umsatz von 3,1 Milliarden Euro. 2010 begann die Montage von Motoren mit NORINCO. Dieser chinesische Staatskonzern zählt zu den führenden Waffenproduzenten im Reich der Mitte. Die NORINCO-Produktionspalette reicht von Handfeuerwaffen und Sprengstoffen bis hin zu Panzern und Antriebskomponenten strategischer Atomwaffensysteme.

Tognum/MTU ist ein Global Player kriegerischer Auseinandersetzungen auf den Weltmeeren. Anders als die weithin bekannten Waffenschmieden Daimler/EADS, Krauss-Maffei Wegmann, Rheinmetall, Diehl, ThyssenKrupp Marine Systems oder Heckler & Koch ist Tognum/MTU ein unterschätzter Rüstungsriese. Denn die MTU-Motoren sind weithin unsichtbar – aber umso wirkungsvoller. Sie bringen Militärfahrzeuge und Kampfpanzer zu den Schlachtfeldern und Kriegsschiffe zu den Orten der Seeschlachten. „Menschenverachtender und verwerflicher kann Wirtschaftspolitik nicht sein“.

Ein Runder Tisch in Friedrichshafen

Die Opfer – Tote und Verstümmelte – der MTU-Rüstungsexportpolitik sind unzählbar, sie gehen in die Abertausende. Ihre Stimmen erreichen weder Friedrichshafen noch die Waffenschmiede, ihre Schreie ersticken ungehört. Grässlin weiter: „Wir wollen den Opfern der MTU-Geschäftspolitik eine Stimme geben, wir wollen zur Umkehr auffordern. Unsere Forderungen richten sich an die Geschäftsführung: Steigen Sie aus dem Geschäft mit dem Tod aus! Unsere Forderungen richten sich an die christlichen Kirchen: Haben Sie den Mut, die Wahrheit auszusprechen! Sprechen Sie in den Kirchen über die MTU-Rüstungsexporte und die verwerflichen Folgen dieser Wirtschaftsweise! Unsere Forderungen richten sich an die IG Metall: Geben Sie den entscheidenden Impuls, indem Sie konkrete Modelle zur Rüstungskonversion – der Umstellung auf eine nachhaltige zivile Fertigung – erarbeiten. Wir fordern: Brennstoffzellen-Motoren für zivile Schiffe statt Dieselmotoren für Kriegsschiffe!“

In diesem Sinne muss sich, so Grässlin, ein „Runder Tisch der Rüstungskonversion“ in Friedrichshafen zusammenfinden, bei dem alle gesellschaftlich betroffenen Organisationen repräsentiert sind. Ausgehend von Friedrichshafen sollte der Impuls in die Rüstungsregion Bodensee gesandt werden. Rüstungskonversion ist das Gebot der Stunde! Auf der zweiten, der Abschlusskundgebung in Friedrichshafen, verriet Grässlin schauspielerisches Talent, als er in die Rolle „Waffentod“ schlüpfte:

Der Tod ist ein Meister vom Bodensee

Nur allzu gerne gastiert der Waffentod am wunderschönen Bodensee, dem Ort des Tourismus und der Toten fernab. Seine Reise führt ihn von der Schweizer Firma Sti Hartchrom in Steinach zur Mowag in Kreuzlingen. Auf der deutschen Seite reist der Waffentod zu ATM Computersysteme nach Konstanz, weiter zu Mine Wolf Systems und zu Rheinmetall Soldier Systems nach Stockach.

Von dort aus fährt er auf der Nordseite des Sees vorbei. Der Waffentod kennt all die Rüstungsproduzenten, reist nach Salem zur RST Radar Systemtechnik und nach Immenstaad zu EADS Astrium. In Friedrichshafen besucht er die Avitech AG und die Zahnradfabrik. Bei der Motoren- und Turbinen-Union – seit 2006 Tognum genannt – wird dem Tod der blutrote Teppich ausgerollt. Diesen dürfen für gewöhnlich nur schlimmste Menschrechtsbrecher und Diktatoren betreten. Ein kleiner Abstecher zu den Zeppelin Mobile Systems in Meckenbronn, schon geht die Fahrt weiter zu AC&S Aerospace in Langenargen und letztlich zur Liebherr Aerospace in Lindenberg.

Haben Sie schon einmal einen Atompilz gesehen?

Für den Tod gibt es Gründe zuhauf, kalt grinsend Dank zu sagen:

Ich danke der Motorwagen-AG in Kreuzlingen. Mit ihren Panzerwagen hat die Mowag der Armee Saudi-Arabiens geholfen, die Demokratiebewegung in Bahrain blutig zu unterdrücken!

Ich danke Mercedes-Benz für die Lieferung von Motoren aus dem Daimler-Werk Mannheim an MTU/Tognum. In Friedrichshafen wurden die Motoren hochgerüstet. In Mannschaftstransportwagen BTR-4 gelangten sie über die Ukraine nach Thailand. Mit vergleichbaren Panzerfahrzeugen wurde bereits 2010 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt!

Ich danke der MTU für die Lieferung von mehr als 300 Motoren vom Typ MTU-883 an China. Die chinesischen Militärs benötigen die Motoren für ihre ZTZ-99-Panzer. Mit Freuden erinnere ich mich an das Tiananmen-Massaker im Juni 1989 nahe dem Platz des Himmlischen Friedens! freut sich der Waffentod satanisch.

Ich danke der EADS Astrium in Friedrichshafen für die Beteiligung bzw. Herstellung von Überwachungsdrohnen und Satelliten – dual use, zivil wie militärisch einsetzbar. Für die EUROHAWK liefert das Werk die Elektronik. Dank der Militärsatelliten erhalten kriegsführende Armeen Zieldaten für tödliche Treffer! lacht der Waffentod herzhaft.

In diesem Zusammenhand danke ich dem Karl-Maybach-Gymnasium, dem Graf-Zeppelin Gymnasium und der Claude-Dornier Gewerbeschule in Friedrichshafen sowie dem Ellenrieder Gymnasium in Konstanz für die Kooperationsverträge mit dem Rüstungsriesen EADS. Hier kommen Kinder und Jugendliche frühzeitig mit Kriegswaffen in Kontakt. Oder wie der Leiter von EADS Cassidian so treffend formulierte: „Wir brauchen Ingenieure.“

Ich danke der Firma Diehl für die lange währende vertrauensvolle Zusammenarbeit mit israelischen Rüstungsfirmen. Mit deren Waffen werden völkerrechtlich Kriege geführt!

Ich danke der Firma LIEBHERR, die Militärhelikopter von EUROCOPTER ausstattet, die auch im Afghanistan-Krieg ihre Aufgabe verrichten!

All das sind exemplarische Einblicke in das Waffenarsenal vom Bodensee. Die besten Botschaften des Todes aber sind die der Aufträge kommender Kriegseinsätze. Alsbald können die Kassen der Konzerne noch lauter klingeln:

Sollen wir den Export von 270 LEOPARD-2-Kampfpanzern mit MTU-Motoren für Saudi-Arabien bewilligen? fragen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Minister den Waffentod. Aber ja! grinst der Sensenmann. In Saudi-Arabien wird die Scharia vollzogen. In Saudi-Arabien wurde eine Fatwa zum Verbot christlicher Kirchen ausgerufen! Wir brauchen die Kampfpanzer im Kampf gegen die Demokratiebewegung und gegen äußere Feinde, schnalzt der Waffentod mit der Zunge.

Das Beste aber hat sich der Waffentod zum Schluss aufgehoben: Motoren für die U-Boote nach Israel: Und soll ich den Vertrag für den Export eines sechstens U-Bootes – wieder mit Dieselmotoren von MTU – für Israel bewilligen? fragt Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière. Aber ja! grinst der Sensenmann. Seit 1975 hat die MTU schon Dieselmotoren für israelische U-Boote geliefert. Mit Umbauten wird dieses U-Boot atomwaffenfähig sein.

Haben Sie schon einmal einen Atompilz gesehen? Sicherlich noch nicht über Teheran! zeigt der Tod sein strahlendes Lächeln.“

Autor: JG/hpk

Weitere Informationen finden sich hier:

www.aufschrei-waffenhandel.de
www.juergengreasslin.com
www.kritischeaktionaere.de
www.dfg-vk.de
www.rib-ev.de

Weitere Links:

Schweiz und Deutschland – Hand in Hand im Waffenexport
Oster-Friedensweg 2012 mit Hindernissen

Aus dem Ostermarsch wird ein Friedensweg