„Schluss mit der Gleichgültigkeit!“

Über hundert Menschen versammelten sich am vergangenen Samstagnachmittag in Konstanz, um gegen die Not der Flüchtlinge an der polnischen Grenze und das inhumane Desinteresse der deutschen Politik und der EU zu protestieren. Organisiert wurde die Mahnwache von Save me Konstanz, Amnesty International und Seebrücke Konstanz. seemoz dokumentiert hier die beiden Reden, die VertreterInnen von Save me und Amnesty International auf der Marktstätte gehalten haben.

„Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Engagierte, liebe Mitmenschen, die ihr heute zur Mahnwache für Solidarität mit den Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze – aber auch für alle Menschen auf der Flucht – gekommen seid:

Das Sterben geht weiter. Nun nicht mehr nur im Mittelmeer und in Wüsten, sondern auch an der polnischen Außengrenze. Ein wahnsinniger Diktator benutzt das Leid von Menschen als Druckmittel und für seinen Machterhalt. An der Grenze harren unzählige Menschen, Frauen, Kinder, Männer, Familien im Niemandsland zwischen Polen und Belarus aus.

Sie haben keine Chance, in Sicherheit in die EU zu kommen, weil die EU, Deutschland und die anderen EU-Mitgliedsstaaten, weiterhin auf maximale Abschottung setzten. Die Menschen erfrieren im kalten Winter. Die genaue Anzahl an Toten, Verletzten und Geflüchteten wissen wir gar nicht, weil Polen niemanden in das Gebiet lässt. So können wir das Ausmaß der dramatischen Lage der Menschen dort nur erahnen.

Die humanitäre Krise an der EU-Grenze zu Belarus ist dabei ein weiteres trauriges Beispiel der Gleichgültigkeit gegenüber den Schicksalen ganzer Familien und Generationen. Denn hinter jeder Zahl in den Fluchtstatistiken verbergen sich Einzelschicksale. Schicksale geprägt von menschlichem Leid, das auf den Fluchtrouten, in den Herkunftsländern und auch auf europäischen Boden tagtäglich durchlebt wird. Es sterben weiterhin Menschen im Mittelmeer. Es sterben weiter Menschen auf der Fluchtroute nach Nordafrika in der Wüste. Weiterhin leben tausende Menschen unter prekären Bedingungen in Flüchtlingslagern wie Moria 2.0. Und jetzt zusätzlich das Leid an der polnischen Außengrenze.

Wir haben genug Platz

Seit einer gefühlten Ewigkeit weisen Amnesty, Seebrücke, Save Me und andere Organisationnen auf diese prekäre Lage der Schutzsuchenden hin. Seit Ewigkeiten werden Menschen unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben in Europa und an den Grenzen ausgesetzt. Menschen,  die mit dem Wunsch und dem Glauben an Schutz für sich und ihre Familien aufgebrochen sind.  Wir haben genug Platz, wir haben auch genug Mittel und wir haben auch genügend hilfsbereite Menschen und Organisationen hier in Deutschland und Europa! Das möchte ich insbesondere betonen.

Eine europäische Verteilung von Geflüchteten muss das Ziel sein! Es kann doch nicht sein, dass die Menschen einfach im Stich gelassen werden. Es darf nicht sein, dass sich die EU weiterhin von einem Diktator erpressen lässt, der Menschen, deren Leid und Träume als eine Art Waffe einsetzt, um seine persönliche Macht zu sichern.

Deutschland und die anderen EU-Staaten haben definitiv die Kapazitäten und die Möglichkeiten, die Menschen problemlos aufzunehmen und humanitäre Fluchtrouten zu etablieren, damit nicht mehr Tausende in Wüsten verenden, im Meer ertrinken oder an Grenzen erfrieren. Ganz zu schweigen von den weiterhin Tausenden afghanischer Ortskräfte, die auf eine Ausreise warten und jeden Tag um ihr Leben fürchten müssen. Es wurden knapp 25.000 Aufnahmezusagen erteilt. Bisher sind aber nur knapp 7000 überhaupt nach Deutschland gelangt. Das ist nicht mal ein Drittel der anerkannten Schutzbedürftigen. Das könnte alles verhindert werden, aber der politische Wille fehlt an allen Ecken und Enden!

Aber wir als Zivilgesellschaft müssen nicht tatenlos zusehen und hilflos den Entwicklungen zuschauen. Deswegen sind wir auch heute hier. Wir haben die Aufgabe, jedes Mal aufs Neue auf die verheerenden humanitären Lagen hinzuweisen. Wir haben die Aufgabe, die Politik verantwortlich zu halten. Und wir können – und das möchteich betonen – in unserem persönlichen Umfeld Toleranz und Solidarität leben, uns engagieren und gegenseitig stützen.

Somit möchten Save me Konstanz und ich sowie die anderen Organisationen euch und euer Umfeld aufrufen: Setzt euch ein für mehr Toleranz und Unterstützung in eurer direkten Umgebung. Überlegt euch, wie ihr im Rahmen eurer Möglichkeiten Schutzsuchenden Unterstützung geben könnt. Wir als Save Me Konstanz stehen euch mit Rat und Tat zur Seite, informieren, bieten Möglichkeiten des Engagements an und reichen euch Interessierten gerne eine helfendeHand!

Zusammen für mehr Menschlichkeit und Solidarität mit Menschen in höchster Not! Weiterhin gilt:#LeaveNoOneBehind“

Tilman Wolf für Save me Konstanz e.V.

 

Und hier die Rede von Amnesty International:

Europa: Schwächen auf höchstem Niveau

Auch wir von Amnesty finden es wichtig, auf die aktuelle Situation an der belarussischen Grenze aufmerksam zu machen. Die letzten Wochen haben immer wieder gezeigt, dass Menschenrechte von Flüchtenden, auch im Herzen Europas, ständig mit Füßen getretenwerden.

Wir verurteilen aufs Schärfste die menschenrechtswidrigen Zurückweisungen der Geflüchteten, wie sie durch Polen zur Regel geworden sind. Obwohl diese Praxis in Polen legalisiert wurde, verstößt sie eindeutig gegen internationales Recht.

Die meisten der im Grenzgebiet gestrandeten Menschen kommen aus Krisengebieten wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Wer von ihnen internationalen Schutz braucht, muss diesen jetzt auch beantragen dürfen und vor allem auch bekommen. Der Zugang zum Asylverfahren an den EU-Außengrenzen darf nicht zum Spielball geopolitischer Interessen werden.

Die Spirale der Gewalt an der polnisch-belarussischen Grenze muss sofort durchbrochen werden. Polen muss unverzüglich gewährleisten, dass internationale Organisationen zu den Menschen in Not gelangen können. Das Flüchtlingshilfswerk der VereintenNationen, die Internationale Organisation für Migration und Ärzte ohne Grenzen werden für medizinische und humanitäre Versorgung vor Ort dringend gebraucht. Dazu hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die polnische Regierung schon im August verpflichtet.

Vor Krieg und Verfolgung fliehende Menschen werden zum Spielball internationaler Politik. Daran ist nicht nur Belarus beteiligt, sondern hauptsächlich auch die Europäische Union.

Die EU könnte diese Menschen an der Grenze zu Belarus, wie nach dem Asylrecht auch gewollt und beabsichtigt, einfach aufnehmen. Lukaschenko würde damit jegliches Druckmittel aus der Hand gerissen werden. Doch weiterhin einigt sich die EU nur darauf, weitere Sanktionen gegen Belarus zu verhängen und provoziert damit sinnlose Todesfälle an der Grenze zu Polen.

Laut dem ehemaligen Außenminister Heiko Maas sei die Aufnahme der Geflüchteten ausgeschlossen. Menschen, die mit Flugtickets nach Belarus gekommen seien, dürften ihm zufolge kein politisches Asyl bekommen. Wir finden, dass die Bewilligung des politischen Asyls nicht von der Fluchtroute abhängig sein darf! Lebensbedrohliche Fluchtwege wie etwa über die Türkei, die Balkanroute oder der Weg mit dem Schiff übers Mittelmeer können nicht Voraussetzung sein. Kein Menschenleben darf unnötig in Gefahr gebracht werden!

Europa zeigt seine Schwächen auf höchsten Niveau. Den Menschen muss jetzt geholfen werden. Der Handelskrieg ist unnötig und hilft in keiner Weise. Wir fordern die Aufnahme dieser Menschen ohne bürokratische Hürden. Die EU muss ihr menschenverachtendes Verhalten stoppen!

Die Rede wurde vorgetragen von Pia Häußer.

Die nächsten Mahnwachen
Seit Ende März 2020 veranstalten VertreterInnen von Seebrücke und Amnesty International jeden zweiten Dienstag um 18 Uhr die Konstanzer Mahnwache Flucht und Asyl. Die Mahnwache soll den Betroffenen Gehör verschaffen und allen eine Gelegenheit bieten, „Neuigkeiten und menschenrechtliche Fragen rund um die Themen Flucht und Asyl in Konstanz zu diskutieren“.
Die nächste Mahnwache beginnt am Dienstag, 14. Dezember, um 18 Uhr auf dem Münsterplatz. Danach ist eine weitere für den 11. Januar 2022 geplant.
Wer sich mit Beiträgen oder in der Gruppe engagieren möchte, melde sich per Mail bitte hier: flucht_asyl_kn@mail.de
 Fotos: pw