Zeitzeugen arbeiten Asylgeschichte auf
Der Kreuzlinger Verein Arbeitsgruppe für Asylsuchende (AGATHU) feiert 2021 mit einem Jahr pandemiebedingter Verzögerung sein 25-jähriges Bestehen. Zum Geburtstag erschien die 170 Seiten starke Broschüre „Kreuzlingen und die Flüchtlinge“. „Darstellungen, Erlebnisse und Erfahrungen seit 1980“ lautet der Untertitel der Broschüre „Kreuzlingen und die Flüchtlinge“, die von den beiden Historikern Uwe Moor und Andreas Thürer zum Jubiläum erarbeitet wurde.
Bis ins Detail stellen die Autoren, die als freiwillige Helfer der ersten Stunden selbst Zeitzeugen sind, die Geschichte der Kreuzlinger Flüchtlingsarbeit von 1980 bis heute zusammen. Dazu zählen neben wichtigen politischen Etappen im Asylrecht, die Vorstellung der unterschiedlichen Unterkünfte für Geflüchtete von Baracken, Zirkuszelt, Luftschutzräume bis zum heutigen modernen Bau an der Döbelistrasse 13 in Kreuzlingen, Interviews und Berichte von Zeitzeugen und Geflüchteten selbst stehen dabei im Vordergrund. Die Aufarbeitung sollte aus der „Froschperspektive“, also von den Betroffenen und Beteiligten selbst erzählt werden.
Geflüchtete sowie Helfer:innen hatten in Kreuzlingen zunächst wenig Unterstützung. Zur Enststehung der Empfangsstelle schreiben die Autoren: „Der Standort der Baracken von 1988 befand sich am selben Ort, an dem nach dem zweiten Weltkrieg das Quarantänelager war. Der Zugang war durch Zäune und Regeln versperrt. Durch diese räumliche Ausgrenzung verfestigte sich auch die Randständigkeit jener, die dem Areal zugewiesen wurden.“
Mit dem Jugoslawienkrieg Ende der 1980er kamen immer mehr Asylsuchende in die Schweizer Grenzstadt. Sie stießen auf viel Ablehnung. Doch einige Privatpersonen nahmen sich ihrem Schicksal an und versorgten sie mit Essen und Decken und manchnal sogar einem Dach über dem Kopf.
Späte Anerkennung für Menschlichkeit
Stadt und Bund verdrängten ihre Verantwortung gegenüber diesen Menschen lange. Im Kosovo-Krieg, Anfang der 1990er, als Kreuzlingen wieder Zufluchtsort für viele verzweifelte Menschen wurde, spielte der Pfarrer Karl Rutishauser eine entscheidende Rolle für die Solidaritätsbewegung. Er rief gemeinsam mit dem Kirchenrat und humanitären Organisationen dazu auf, dass der Bund seine „rigorosen Abweisepraktiken ändern“ solle. Aus dieser Bewegung ging 1995 der heutige Verein AGATHU hervor. Während die Freiwilligen über Jahre nur als „Gutmenschen“ belächelt wurden, kam es 2014 zu einer Wende, als AGATHU mit dem „Prix Kreuzlingen“, einem Anerkennungspreis der Stadt, ausgezeichnet wurde. 2015 hatten die Helfer:innen jede Menge Arbeit, denn die nächste Fluchtwelle sorgte für viele Begegnungen und neue Ideen. Arbeitsvermittlung, International Dinner, Kreativ-Werkstätten und immer ein offenes Ohr für die traumatisierenden Erlebnisse der Ankömmlinge.
Die Stimmung im „Mama Africa“ hat sich gewandelt
Heute ist der Verein AGATHU eine etablierte Institution im Thurgau, wenn es um Flüchtlingsfragen geht. Er ist gut vernetzt, bietet Sprachkurse, Rechtsberatung und hilft bei der Jobvermittlung. Seit 2019 hat sich die Arbeit noch einmal geändert, denn statt eines Empfangs- und Verfahrenszentrums (EVZ), in dem einst das Recht auf Asyl geprüft wurde, gibt es in Kreuzlingen nur noch ein Ausweisezentrum (BAZoV, Bundesasylzentrum ohne Verfahren). Für die Geflüchteten, die in Kreuzlingen ankommen, ist es also nur eine Frage der Zeit, wann sie ausgeschafft, also abgeschoben werden. Die Besucher:innen aus dem EVZ tauften den Café-Treff AGATHU „Mama Africa“. Vor 2019 hatten sie noch Hoffnung auf einen Neuanfang in einem sicheren Land. Heute ist die Grundstimmung eher von Resignation geprägt. Doch die freiwilligen Helfer:innen, die diesen Ort des Ankommens, Runterkommens oder Ernstgenommenwerdens überhaupt ermöglicht haben, bieten selbst dieser Herausforderung eisern die Stirn.
„Zum 25-Jahrjubiläum wollten wir keine Schrift zu AGATHU machen, sondern die Situation der Flüchtlinge in Kreuzlingen seit den 80er Jahren generell angehen“, sagt Karl Kohli, der den Verein seit 2010 präsidiert. „Jetzt sind noch Augenzeugen und Beteiligte am Leben. Ihr Wissen soll im Sinne von Oral History genutzt und die schriftlichen Quellen sollen gesichtet werden, bevor sie irgendwo verschwinden.“ Das Projekt sei insbesondere vom kantonalen Kulturamt mit großem Interesse aufgenommen und unterstützt worden.
„Kreuzlingen und die Flüchtlinge“ kann über die Homepage bestellt oder als PDF heruntergeladen werden.
Text: Judith Schuck
Bild: Inka Grabowsky