„Ein feiner Kumpel und Genosse“
Er war am See aufgewachsen und blieb stets der Region verbunden, deren Aufstandsgeschichte er kannte wie nur wenige. Vor allem aber war Manfred Dietenberger ein linker Gewerkschafter, der sich auch als DGB-Kreisvorsitzender nicht verbiegen ließ und immer auf Seiten der Unterdrückten und Ausgebeuteten, der Marginalisierten und Verarmten stand. Mitte Dezember starb er im Alter von 69 Jahren. Die Sozialistische Zeitung SoZ, für die er regelmäßig schrieb, veröffentlichte den folgenden Nachruf.
Immer gut gelaunt, mit Witz in starkem allemanischem Dialekt, Gemütlichkeit und voller lebhafter Anekdoten und wachem Geist ist ein Original von uns gegangen. Geprägt von der Lehrlingsbewegung ist er einer der Betriebsaktiven, die seiner Klasse bis zum Schluss treu geblieben sind. Wann immer wir in der Redaktion im Bereich Betrieb und Gewerkschaft auf der Suche waren, fiel sein Name.
Er hatte Pläne, wollte unbedingt „sein“ DGB-Ortskartell reaktivieren – „gerade in Zeiten der Pandemie“; er war ja zuletzt DGB-Kreisvorsitzender in Waldshut gewesen. Aufbauend auf einer Artikelserie in der SoZ zur Umstrukturierung bei ZF Friedrichshafen, wo er gearbeitet hatte, wollte er eine Broschüre zur ökologischen Konversion der Automobilindustrie herausgeben – „um mit den Kollegen ins Gespräch über mögliche Alternativen zu kommen“, wie er sagte.
Immer nah an der Arbeitswelt und an den Menschen dran, sie stets respektvoll behandelnd, auch wenn er nicht mit ihnen einverstanden war, beherrschte er die hohe Kunst, die Sprache der sogenannten einfachen Leute zu sprechen, ohne ihnen nach dem Maul zu reden. Und strebte dabei immer über die Verhältnisse und ihre Zwangsjacken hinaus.
Er war regional verwurzelt wie kaum einer. Kannte die Geschichte der Schwarzwälder Bauern und Arbeiter bis ins Detail, schöpfte immer wieder aus diesem Fundus, war in seiner Region Waldshut hoch geachtet, auch vom politischen Gegner, und hatte ein Art, mit diesem umzugehen, die so gar nicht in den Geschichtsbüchern steht und eine Mischung aus listigem Umgang und felsenfestem Standpunkt war. Er hatte ein sicheres Urteil und war ein zutiefst zugewandter und hilfsbereiter Genosse.
Immer neugierig, gern für ein Schwätzchen aufgelegt, sehr belesen, in der Geschichte der Arbeiterbewegung bewandert wie kaum einer – wenn er darüber sprach, wurden die Gestalten aus der Vergangenheit lebendig. An der Entwicklung der SoZ nahm er großen Anteil – mit Beiträgen, die er ab Mai 2013 mit wenigen Ausnahmen monatlich beisteuerte, aber auch an ihren Versuchen, die Redaktion zu verjüngen und die neuen Generationen zu erreichen. Er war ein gern gesehener Gast bei unserer Zukunftswerkstatt und hatte Zugang zu jungen Leuten, weil er ein begnadeter Geschichtenerzähler war.
Von 1525 bis heute
Geschichte und Geschichten waren sein Steckenpferd: 1984 veröffentlichte er ein Buch über die Geschichte der Arbeiterbewegung in Oberschwaben, „… die Enkel fechtens besser aus“ (das Buch ist heute noch antiquarisch zu haben). Etwa zur selben Zeit beteiligte er sich an der Erstellung eines Kalenders über den Bauernkrieg 1524/25, der damals von den beiden Zeitungen Was tun (eine der Vorläuferzeitungen der SoZ) und die linke (eine Schwesterpublikation aus Österreich) herausgegeben wurden.
Das Thema lag ihm sehr am Herzen. Wer ihn besuchte, wurde an die historischen Stätten geführt; dazu gehörten Orte, über die 1525 verfolgte revolutionäre Bauern über den Hochrhein in die Eidgenossenschaft geflüchtet waren; ebenso 1848 Wilhelm Liebknecht und andere nach der Niederlage der bewaffneten Revolutionäre von 1848/49. Oder der Bahnhof von Gottmadingen bei Singen, auf dem Lenin und die anderen Bolschewiki im April 1917 vom Zug aus Zürich in den „plombierten Waggon“ der Preussisch-Deutschen Eisenbahn umstiegen, um nach Saßnitz an die Ostseee und weiter ins revolutionäre Petrograd zu reisen. Er hat auch jenes Haus in Todtmoos-Rütte entdeckt und darüber geschrieben, in dem Max Hoelz 1929 seine Autobiographie verfasste.
Sein Wahlspruch lautete: Wenn ich etwas Neues verstehen will, schaue ich erst einmal in die Vergangenheit. Bis zuletzt war er im Geschichtsverein der Region Hochrhein aktiv. Und blieb heimatverbunden bis zum Schluss: Manfred war ohne seinen „See“, wie der Bodensee in der Region genannt wird, nicht zu denken. In dessen kaltem Wasser ist er gern geschwommen.
Oberschwaben, Vorarlberg, Südschwarzwald
Manne, wie ihn seine Freunde nannten, wurde 1952 in Friedrichshafen in ein unpolitisches, wie er sagte, aber in seiner Grundhaltung antifaschistisches Elternhaus geboren. In einem Interview mit Charly Schweizer (zitiert im Buch „Die ‚andere‘ Provinz“) beschreibt er, wie es ihn gefreut hat, als der Alt-Nazi und Bundeskanzler Kiesinger von der Journalistin Beate Klarsfeld öffentlich geohrfeigt wurde. Ein Flugblatt der Aktion Demokratischer Fortschritt, einer Vorfeldorganisation der damals verbotenen KPD, veranlasste ihn, seine Mitschüler auf dem Salvator-Kolleg in Lochau zu animieren: „So etwas müssen wir auch machen“. Daraus entwickelte sich eine Schülerzeitung.
In Friedrichshafen begann er 1969 eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann bei der Firma Reisch. Er rutschte in die sich damals entfaltende Lehrlingsbewegung, bekam Kontakt zur Gewerkschaftsjugend und trat in die Gewerkschaft HBV ein. Heimisch wurde er jedoch in der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ), die unter den Lehrlingen Aktionen organisierte und von der Befreiungstheologie beeinflusst war. Dort lernte er auch seine Frau Helga kennen. „Sie war die einzige bei einer unserer Veranstaltungen, die mir einen ganzen Abend lang widersprochen hat“, sagt er im Interview. „Dies hat mir imponiert.“
Nicht über jede Brücke gehen
Zum Marxismus kam er, weil ein Mitlehrling ihm erzählte, er habe Kontakt zur illegalen KPD. „Das gefiel mir. ‚Illegal‘ hörte sich nicht schlecht an.“ Er landete dann bei einer Vorläuferorganisation der späteren KPD/ML, sein Kontaktmann wurde Helmut Weiss – beide fanden sich später in der Vereinigen Sozialistischen Partei (VSP) wieder, die die SoZ gegründet hat – und gründete die VSP Oberschwaben, aber „ein Parteimarxist bin ich nie geworden“. Kontakt zur Was tun bekam Manne 1980, als in Polen der „lange Sommer der Solidarität“ losging. Seitdem war er unserer Strömung freundschaftlich und auch als Mitglied verbunden.
Aber erst gab es noch Umwege. 1975 initiierte er als Einzelbewerber eine „Freie Arbeitnehmerliste“, mit deren Hilfe er zu den Gemeinderatswahlen kandidierte und 16 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Wegen des in Baden-Württemberg üblichen Auswahlverfahrens kam er trotzdem nicht rein. Er holte sich dann politischen Rat bei der DKP, in die er auch eintrat.
Nach der Lehre studierte er in Stuttgart Sozialpädagogik für Jugend- und Heimerziehung. Danach bewarb er sich als Abteilungsleiter beim Kaufpark in Weingarten, wurde aber vor Ende der Probezeit gekündigt, weil er einen Betriebsrat gründen wollte. Also heuerte er in der ZF an, erst als Lagerist, dann über eine betriebsinterne Umschulung als Dreher, wurde Mitglied der IG Metall und bald Vertrauensmann.
Er sollte DGB-Jugend-Sekretär in Südwürttemberg-Hohenzollern werden und dazu seine DKP-Mitgliedschaft als „Jugendsünde“ abtun. Das lehnte er ab. Darauf angesprochen, man habe ihm damit eine goldene Brücke bauen wollen, erwiderte er: „Ja, und ich wollte nicht darüber gehen.“
Das war Manne. Wir werden ihn vermissen.
Text und Foto: Redaktion der Sozialistischen Zeitung SoZ
Auch die internationale Solidarität lag Manfred Dietenberger am Herzen. Als wir von der damaligen Nebelhorn-Redaktion gemeinsam mit dem früheren Konstanzer DGB-Sekretär Erwin Reisacher 1984 eine Unterstützungsaktion zugunsten der britischen Bergarbeiter planten, war „Manne“sofort dabei – und organisierte in Waldshut einen Abend, an dem viel Geld für die gegen Margaret Thatcher streikenden Miners zusammen kam.