Paradies mit Abgründen. Die Entdeckung des Jahres: Abdulrazak Gurnah, Nobelpreisträger 2021
Dem Komitee des Literatur-Nobelpreises wurde in de Vergangenheit nicht zu Unrecht vorgeworfen, einer eurozentrischen Agenda oder der Auflagenhöhe und dem bisherigen Erfolg von Kandidaten und Kandidatinnen zu huldigen. Dies ist beim jüngsten Preisträger, dem aus Sansibar stammenden Abdulrazak Gurnah keineswegs der Fall. Zum Zeitpunkt der Preisverleihung war keines seiner Bücher auf Deutsch lieferbar, obwohl er gerade einem deutschen oder deutschsprachigen Publikum einiges über die Geschichte der Kolonie Deutsch-Ostafrika zu erzählen hat.
Sein ursprünglich 1994 erschienener und 2021 neu aufgelegter Roman «Das verlorene Paradies» erzählt die Geschichte von Yusuf, der in dieser Kolonie, die unterdessen Tansania heißt, lebt. Der englische Titel, der schlicht «Paradise» heißt, ist indessen weitaus treffender, denn das Paradies, steckt voller Abgründe, die der zwölfjährige Protagonist erst mit der Zeit wahrnimmt. Und er wird der Erzählweise des Autors weitaus gerechter, der dem Leser die Geschichte in weit ausholendem epischem, eher traditionellem Duktus darbietet, der immer wieder mit Lakonie und einem Sarkasmus unterlegt ist, den man zunächst leicht überlesen könnte.
Yusuf, mit dem Namen eines Propheten im Koran, dem christlichen Josef und seiner Josefsgeschichte nicht unähnlich, lebt indessen zu Beginn der deutschen Kolonialzeit, also in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, keineswegs eine prophetische oder biblische Geschichte. Er ist der Sohn eines kleinen Händlers im Hinterland, durch das die Kolonialherren eine Eisenbahnlinie gebaut haben. Als Menschen, die Eisen fressen können, werden die Deutschen einmal bezeichnet. Aber es herrschen Dürre und Armut. Eines Tages kommt Onkel Aziz, der immer wieder einmal bei seinem Vater vorbeischaut und nimmt ihn mit, um in seinem Geschäft am Meer zu helfen. Aber Aziz ist gar nicht sein Onkel, vielmehr ist sein Vater bei ihm verschuldet, und Yusuf dient nun als Pfand, bis der Vater ihn auslösen kann. Es handelt sich also um Menschenhandel, eine milde Form der Sklaverei. Yusuf wird seine Eltern nie wiedersehen.
Bei seinem neuen Herren, dem «Seyyid», kommt er unter die Fittiche des älteren Khalil, der mit ihm das gleiche Schicksal teilt, ihn in die Führung des Ladens ganz in der Nähe des großen Hauses ihres Herrn einweist, ihm, der zu Hause eine Bantusprache oder Swahili gesprochen hat, ein paar Brocken Arabisch, der Sprache der Handelsherren hier am Meer beibringt. Er sieht zum ersten Mal eine Stadt, einen Hafen, eine Moschee, lernt Araber und Inder kennen. Noch einmal wird er zu einem kleinen Händler in den Bergen «ausgeliehen». Aber dann holt ihn Aziz zurück, um ihn, der inzwischen zum jungen Mann geworden ist, auf eine seiner Reisen mit einer Handelskarawane ins Landesinnere vorzubereiten. Dies Reise dauert Monate und endet schlecht. Sie geraten in Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Stämmen des Hochlands, von denen man nicht so genau weiß, welche Rolle die Deutschen dabei spielen. Sie verkaufen wenig, verlieren immer mehr Männer und der Seyyid fast sein gesamtes investiertes Kapital. Geschlagen und erschöpft kehren sie zurück.
Nicht genug, entdeckt die Frau des Kaufherrn ihn zum Schluss in dessen Abwesenheit als vermeintlichen Heiler ihrer Krankheit, Yusuf sträubt sich immer wieder, das verbotene Haus zu betreten, zu allem Unglück verliebt er sich in Khalils Schwester. Dann rücken deutsche Offiziere mit ihren schwarzen Soldaten, den Askaris, ein, um gewaltsam neue Soldaten zu rekrutieren, es geht das Gerücht eines Kriegs gegen die Engländer. Yusuf flieht, sein Schicksal bleibt offen. So endet das Leben im Paradies. Viel zu entdecken über fremde und eigene Geschichte bei einem Autor, den es, auch wegen seines distanziert lakonischen Stils und seiner Sprache, zu entdecken gilt.
Text: Jochen Kelter, Bild: klimentgrozdanoski auf Pixabay
Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies, Penguin Verlag 2021, 336 S., 25.00 EUR, 35.90 FR