Der Russe ist einer, der Birken liebt
Zu jedem Vollmond bringt das Theater Konstanz in seinem Late-Night-Format „vollMond“ nicht nur für Mondsüchtige Ungewöhnliches und Unterhaltsames von und mit dem Schauspielensemble auf die Bretter der Spiegelhalle. Zuletzt im Dezember, als in Kooperation mit der Fachgruppe Slavistik der Universität Konstanz ein literarisch-musikalischer Abend die BesucherInnen ins weite, winterliche Russland entführte. Die offensichtlich vergnügliche Veranstaltung veranlasste Fynn Beckmann, Literatur-Kunst-Medien-Student an der hiesigen Universität, zu folgenden Zeilen, die wir unseren theateraffinen LeserInnen nicht vorenthalten wollen:
Sonntagabends noch mal vor die Tür?
An diesem kalten Sonntag schwinge ich mich um 21:30 Uhr noch mal auf mein Fahrrad. Schlagartig peitscht mir der kalte Wind entgegen und ich frage mich, was ich hier eigentlich tue. Für die Uni noch mal in die Spiegelhalle am Konstanzer Hafen, Texte und Lieder über den russischen Winter und anschließend einen Bericht anfertigen. Wird schon. Am Spiegelsaal angekommen, werde ich aus der Kälte sofort in eine warme und wohlige Atmosphäre hereingezogen. Der Saal ist gut besucht, alle haben bereits vor der beleuchteten Bühne Platz genommen. Sie ist das Prunkstück und Mittelpunkt des Raums und der Ort des Geschehens der nächsten Stunde.
Im Vergleich zu den anderen Theaterbesuchern fällt mir direkt meine unangebrachte Abendgarderobe auf. Der schwarze Kapuzenpullover, den ich mir in der Hektik übergestreift hatte, geht im Meer voller glitzernder Abendkleider und weißen gebügelten Hemden unter. Im Moment der aufkommenden Selbstzweifel kommt ein Herr mit Sweatshirt und Mütze auf die Bühne, stellt eine Thermoskanne auf den Tisch und breitet ein paar Texte vor sich aus. Ich atme auf. Man könnte von einer Sweatshirt-Solidarität sprechen.
Melancholische und heitere Texte über das weite Land
Als Odo Jergitsch zu lesen beginnt, fange ich sofort an, mir Notizen zu machen. Er schafft es, seine ZuhörerInnen sinnbildlich in ihr Kindesalter zurückkehren zu lassen. Es scheint, als würde er uns mit seiner Stimme und seiner lebhaften Erzählweise vor einem Kaminfeuer vorlesen, während draußen der russische Winter die Welt fest im Griff hat. Eigentlich sitzt er gar nicht hier an einem Tisch im Spiegelsaal, sondern in einem großen, alten Ledersessel. Die Texte an diesem Abend handeln oft von dem kalten, unerbittlichen Winter in Russland, von den Ausmaßen der Natur, die durch ihre rohe Gewalt keine Gnade kennt. Von Schneemassen und niemals endenden Schneestürmen, die dich vom Weg abkommen lassen. Dir den Orientierungssinn rauben und dich im Dunkeln verzweifeln lassen.
Die kalten Vorstellungen in den Köpfen des Publikums werden zwischenzeitlich durch herzerwärmende Liebesgeschichten aufgetaut, die von Liebenden und deren Sehnsüchten erzählen, die am Ende doch noch erfüllt werden. Das Eis an diesem kalten Dezemberabend bricht aber erst bei einem Text von Anton Tschechow, der von einem Beamten handelt, der versehentlich in den Nacken eines hochrangigen Generals niest und sich dafür mehrmals entschuldigen will. Der Text ist mit so viel Witz versehen, dass sich die BesucherInnen vor lauter Gelächter nur schwer auf den Stühlen halten können. Der Saal füllt sich mit losgelösten Emotionen, die mit dem Vorgetragenen auf der Bühne interagieren. Ein herrlicher Dialog, der sich gegenseitig hochschaukelt. Die Magie des Theaters, die perfekte Darstellung des Akteurs und das Publikum, das auch eine Rolle in diesem Miteinander einnimmt.
Adelya Shreders Stimme
Dieser Abend wäre aber nicht vollständig erzählt, wenn an dieser Stelle nicht der großartige russische Gesang von Adelya Shreder erwähnt worden wäre, deren Stimme so melancholisch und schön, zugleich beeindruckend, das Publikum applaudieren lässt und es kurzzeitig in eine andere Welt entführt. Mir fällt auf, dass die Sängerin auf der Bühne erst richtig zu scheinen beginnt, wenn weitere Texte auch kurz in ihrer originalen russischen Sprache vorgetragen werden. Es sind authentische Puzzleteile, die sich zusammensetzen und sie erst so richtig an diesen Ort ankommen lassen.
Den krönenden Abschluss liefert eine weitere Gesangseinlage, die diesmal gemeinsam von allen in den Saal getragen wird. „Im Walde steht ein Tannenbaum“ rundet für mich diesen Abend ab, der mir einen bleibenden Eindruck in die russische Lyrik gegeben hat. Der von klassischen Klischees des russischen Winters handelt und sie teilweise auch bitterkalt bestätigt hat. Aber auch von einer neuen, mir noch unbekannten Seite: Die von dem fantasievollen Humor handelt, der die Menschen zum damaligen Zeitpunkt der Veröffentlichung mit Lachen erwärmt haben muss und die Orientierung durch Schnee und Sturm vorgegeben hat.
Ein Abend voller Erlebnisse. Zum Glück bin ich doch noch auf das Fahrrad gestiegen.
Text: Fynn Beckmann
Bilder: Dominik Tweer