Kulturpreis 2022 der Stadt Lindau: Wer, wenn nicht Charly! (II)

Karl „Charly“ Schweizer, der politisch engagierte Historiker, der über die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus vor allem durch sein Engagement für den Erhalt des Lindauer Inselbahnhofs bekannt wurde, erhält den Kulturpreis 2022 der Stadt Lindau. Hier eine Würdigung aus der Feder seines Weggefährten Winfried Wolf.

Teil I lesen Sie hier.

Große Politik mit Charly mittenmang hin und Engagement als Lokalhistoriker her – es gibt einen Aspekt in der Arbeit des Karl Schweizer, der in besonderem Maß kulturpreiswürdig ist. Charly hat maßgeblich dazu beigetragen, dass es in Lindau auf der Insel bis zum heutigen Tag ein Juwel gibt, nämlich den Inselbahnhof. Und das ist und war ein Kampf, der nunmehr ziemlich genau seit einem Vierteljahrhundert andauert.

Das Projekt „Zerstörung des Inselbahnhofs“

Ich zitiere aus der Lindauer Zeitung vom 29. April 1997 die Meldung zu diesem historischen Vorgang: „Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Heinz Dürr, Bayerns Wirtschafts- und Verkehrsminister Otto Wiesheu und Lindaus Oberbürgermeister Jürgen Müller bekräftigten gestern auf einer Pressekonferenz, dass sie dazu tendieren, den Bahnhof aufs Festland zu verlagern. Eine Schienenverbindung zur Insel ist nicht vorgesehen. Der Bahnchef rechnet damit, dass das gesamte Bahnhofsprojekt in vier bis fünf Jahren abgeschlossen ist. Diese Entscheidung bestimmt, wie Lindau in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Die Kosten des gesamten Projekts bezifferte Dürr auf rund 70 Millionen Mark.“ Wobei die Formulierung, wonach die Herren zur Verlegung des bestehenden Bahnhofs weg von der Insel „tendieren“ würden, sich als geschwurbelt erwies. Das war aus Sicht der Deutschen Bahn AG und der Stadtoberen damals bereits ein in Stein gemeißelter Beschluss. Er beruhte auf demselben Vorgehen, das der damalige Bahnchef Heinz Dürr auch in Stuttgart beim Projekt Stuttgart 21 an den Tag gelegt hatte – auf der Überrumpelung der Öffentlichkeit und der Schaffung vollendeter Tatbestände.[4] Und die Aufgabe des Lindauer Inselbahnhofs war – und ist! – natürlich Teil der kurz zuvor, 1994, mit der „Bahnreform“ durchgesetzten Bahnprivatisierung und Teil der Orientierung des Bahnkonzerns und vor allem dessen Tochter DB Netz auf die Verscherbelung des wertvollen, in 180 Jahren Geschichte angehäuften Eisenbahn-Immobilien-Vermögens. Die großen Vorhaben der Bahnhofszerstörung in Stuttgart, Frankfurt am Mai und München wurden ergänzt um ein Projekt wie dasjenige am Bodensee.[5]

Zurück nach Lindau: Die Operation Überrumpelung der Öffentlichkeit schien geglückt – bereits am Tag nach der genannten Pressekonferenz erklärten laut Lindauer Zeitung „alle Fraktionssprecher der im Stadtrat vertretenen Gruppierungen ihr grundsätzliches Einverständnis mit den Bahnhofsverlegungsplänen in einen Festlandsstadtteil“. Am 20. Juni legte sich die Industrie- und Handelskammer auf Reutin als Ort für den „neuen Hauptbahnhof“ fest. Und am 23. Oktober desselben Jahres sprachen sich die entscheidenden Strukturen der damals in Lindau noch absolut vorherrschenden CSU für die Verlegung des Bahnhofs weg von der Insel aus – wobei sie die aus der Stuttgart 21-Demagogie bereits bekannte Formulierung wählten, damit böte sich „eine einmalige Chance, städtebauliche Ideen umzusetzen und die Insel wieder zu einer Einheit werden zu lassen.“[6]

Die Schiene als Spalter der Insel … seit 1854!? Als ob die Oberen und die gesamte Bevölkerung der Stadt Lindau Anfang der 1850er Jahre nicht sehnlichst auf die Ankunft der in Bau befindlichen Ludwig-Süd-Nord-Bahn auf die Insel selbst gewartet hätten!? Als ob die Feierlichkeiten für diese historische Bahn nicht auf Wunsch der Stadt-Oberen ausdrücklich auf den 13. Juli 1854 verschoben worden wären, also auf einen Zeitpunkt, an dem die Züge auch auf die Insel und nicht bloß an das Bodensee-Ufer rollten?! Als ob die Stadt Lindau nicht dann aufgeblüht wäre, als es diese Eisenbahnverbindung und mit ihr diese wunderbare Vernetzung von Bahn und Schiff gegeben hätte!? Als ob nicht Jahr für Jahr Hunderttausende Besucherinnen und Besucher der Stadt Lindau diese einmalige Symbiose von Uferpromenade, Bahnverbindung und Schiffsverkehr genießen würden!?

Für die Menschen am Bodensee und für Leute, die Lindau besucht haben, muss man kaum ausführen, welch eine bodenlose Zerstörungswut hinter diesen Plänen zur Aufgabe des Inselbahnhofs erkennbar ist. Für Menschen ohne entsprechende Kenntnis sei in gebotener Kürze das Folgende ausgeführt: Es gibt in ganz Deutschland kaum einen Bahnhof in dieser Kategorie, der derart (Jugend-) stilvoll, beeindruckend und städtebaulich überzeugend ist und die Bahnreisenden mit einer Ankunft direkt an der Seepromenade begeistert. Es war die Deutsche Bahn AG selbst, die kurz zuvor in einer – dann gezielt geheim gehaltenen – Studie festgestellt hatte: „Zusammenfassend hat das Bahnhofsgebäude in Lindau das Potential, Bench-Mark-Funktion [Leitbild-Funktion; d. Red.] für die touristischen Bahnhöfe in Süddeutschland und eine bedeutende Rolle als Imageträger für die DB AG zu übernehmen.“[7] Alle Menschen vor Ort, die nicht von Fremdinteressen bestimmt waren, waren sich einig, dass die Pläne zur Auflassung des Inselbahnhofs ausschließlich spekulativen Zielen dienten. Oder, wie es damals in einer Veröffentlichung der Bunten Liste hieß: „Der Bahn geht es primär ums Vergolden ihrer Grundstücke und nicht darum, ein attraktives Verkehrsnetz zu schaffen. Hier geht es um Grundstückspekulationen und sonst um gar nichts.“[8]

Bahnhofsretter

Seit diesem Zeitpunkt – und im Grunde bis zum heutigen Tag – gibt es in Lindau und Region ein hartes Ringen, diese bahn- und stadtzerstörerischen Bahnhofspläne zu verhindern. Es gab zu diesem Thema hunderte Flugblätter, eine große Zahl Sonderausgaben von Zeitschriften, Dutzende Stadtratsbeschlüsse, zwei Bürgerentscheide, mehrere Gegenentwürfe zur Optimierung des Inselbahnhofs, das lokal wichtige Bündnis „Aktionsgemeinschaft Inselbahnhof“ mit einer eigenen Publikation, dem „Bahn-Boten“, und viele hundert Artikel in der „Lindauer Zeitung“. Und bis heute wurde erreicht, dass der Inselbahnhof existiert und in Betrieb befindlich ist – auch wenn ein Fernbahnhof in Reutin gebaut und 2020 in Betrieb genommen wurde, auch wenn die Oberen im Bahnkonzern, in der Stadt und wiederholt eine Mehrheit im Stadtrat immer wieder aufs Neue Versuche starten, den Inselbahnhof auszuhungern, ihn von guten Fahrplanverbindungen abzuschneiden, ihn durch eine Rücknahme der Gleise um einige hundert Meter förmlich ins Abseits zu stellen und diesen durch ausbleibende Investitionen in Renovierung und Erhalt des Gebäudes selbst tendenziell dem Verfall näher zu bringen.[9]

Jedoch, es sei wiederholt und signalrot unterstrichen: Wir blieben ein Vierteljahrhundert gegen die breite Front von CSU, gegen die Spekulationslobby und gegen den Bahnvorstand erfolgreich: Es gibt den Inselbahnhof immer noch. Die Prognose von Dürr, Wiesheu und OB Müller, man werde die Zerstörung des Inselbahnhofs „in vier bis fünf Jahren“, also bis 2001 oder 2002 „durchgezogen“ haben, hat sich nicht erfüllt. Ein großer Teil der Züge fährt den Inselbahnhof weiter an. Und all dies ist nicht zuletzt Verdienst des Kulturpreisträgers der Stadt Lindau 2022.

Eine kleine, aber feine Feier im Bayerischen Hof?

Sagte ich, es gäbe eine breite Front von CSU und Stadtoberen zur Auflassung des Inselbahnhofs? Das stimmt so nicht ganz. Und hier schließt sich der Kreis meiner Laudatio und es betritt der Bayerische Hof nochmals die wunderbare Tribüne am See. Denn ein Höhepunkt unseres Widerstands gegen die Zerstörung des Inselbahnhofs war eine Konferenz mit dem Titel „150 Jahre Ludwig Süd-Nord-Bahn – Lasst die Kirche im Dorf und den Bahnhof auf der Insel!“. Veranstalter war die – von mir 2001 ins Leben gerufene – Bahnfachleutegruppe „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ (BsB). Die Konferenz fand am 6. und 7. März 2004 statt. Ort der Tagung war … der Bayerische Hof. Natürlich hätten wir uns nie und nimmer einen derart prominenten Ort für eine solche Konferenz leisten – und damit mit Theo Waigel und den EU-Finanzministern konkurrieren – können. Doch es war den Menschen, die sich in Lindau gegen die Bahnhofszerstörungspläne zusammengefunden hatten, allen voran Charly, gelungen, auch prominente CSU-Menschen für unsere Sache zu gewinnen, im echten Sinne „Konservative“, also Menschen, die das Bestehende zu bewahren versuchen. Einer von ihnen war der damalige Chef und Eigentümer des Bayerischen Hofs, der heutige Senior-Chef dieses Hotels, Dr. Richard Stolze. Er öffnete uns die Tore und die Räume des Hotels für unsere – sehr gut besuchte – Konferenz. Wir tagten dort zwei Tage lang mit prominenten Referenten – unter anderem mit den Verkehrsexperten Prof. Heiner Monheim (Trier und Bonn) und Prof. Karl-Dieter Bodack (Gröbenzell), mit dem Regisseur Klaus Gietinger (Lindenberg und Frankfurt/M.) und dem Hotelier und Eisenbahnenthusiasten Andreas Kleber (Bad Saulgau /Schorndorf). Ergänzt um eine demonstrative Fahrt über den See nach Bregenz mit dem Schiff und zurück natürlich per Zug – auch als Werbung für eine zukünftige Bodensee-S-Bahn.[10] „Bewaffnet“ mit einer noch auf dieser Schiff- und Bahnfahrt verfassten Resolution zur Verteidigung des Inselbahnhofs. Mündend in das bereits zitierte Buch „Inselbahnhof – Krimi Lindau“. Und da ich damals auch im Hotel – von Herrn Stolze senior deutlich subventioniert – nächtigen durfte und in diesem Zusammenhang wohl meine E-Mail-Adresse hinterließ, erhalte ich die genannten regelmäßigen PR-Zusendungen. Wobei deren Inhalt mich gelegentlich befürchten lässt, dass eine vergleichbare Konferenz zum Erhalt von Stadtqualität und Verteidigung des Inselbahnhofs dort kaum mehr ausgerichtet werde könnte.[11]

Doch wie wäre es, wenn Sie, Herr Dr. Robert Stolze, aktueller Chef des Hotels, eine Feier im kleinen Kreis veranstalten würden, um den Kulturpreisträger der Stadt Lindau des Jahres 2022 zu würdigen?

Text: Winfried Wolf, Bilder: Privatbesitz

Winfried Wolf ist aktiv bei Bahn für Alle und Bürgerbahn statt Börsenbahn. Er ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Er ist auch verantwortlich für die Publikationen ZeroCovid und Zeitung gegen den Krieg. Websites: www.winfriedwolf.de und www.lunapark21.net. Kontakt: redmole@gmx.net

Jüngste Veröffentlichung: Tempowahn. Vom Fetischismus Geschwindigkeit zur Notwendigkeit der Entschleunigung, Promedia Wien 2021 (220 Seiten, 16 Euro).

Anmerkungen

[4] Ich gehe auf diese systematische Politik der Überrumpelung der Öffentlichkeit bei all diesen Bahnhofszerstörungsprojekten – in Stuttgart, in Frankfurt/M., in München und in Lindau – ausführlich ein in: Winfried Wolf, abgrundtief + bodenlos, Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, 3. erweiterte Auflage, Köln 2019.

[5] Die mit Stuttgart 21 vergleichbaren Projekte „Frankfurt21“ und „München21“ konnten zunächst – durch massiven Bürgerwiderstand – gestoppt werden. Inzwischen leben sie neu auf – in Frankfurt/M. mit dem Projekt eines 40 Meter tief gelegenen Fernbahntunnels und in München mit dem Projekt „Zweite S-Bahn-Stammstrecke“.

[6] Eine Dokumentation der Ereignisse um die Pläne zur Bahnhofsverlegung findet sich, verfasst von Karl Schweizer, in dem Buch „Inselkrimi Bahnhof Lindau“, herausgegeben von Klaus Gietinger, Wolfgang Hesse, Karl Schweizer und Winfried Wolf, Wilhelmshorst 2004 (Winfried Wolf Eigenverlag), Seiten 94ff.

[7] Studie der Deutschen immobilien-Anlagengesellschaft mbH, einer Tochter der Deutschen Bank, erstellt im Auftrag der Deutschen Bahn AG, hier wiedergegeben in: Inselkrimi Bahnhof Lindau, a.a.O., S. 99.

[8] Hoybote, Zeitschrift der Bunten Liste, Juni 1997 (Sonderdruck).

[9] Im Dezember 2021 wurde die endlich elektrifizierte Strecke Ulm – Friedrichshafen – Lindau in Betrieb genommen. Doch der nunmehr durchgehende IRE (ein Regionalexpress) endet in Reutin und fährt den Inselbahnhof nicht an. Laut Auskunft der DB soll der Reisende für die rund zwei Kilometer von Reutin nach Insel Lindau einen Bus mit einer Fahrtzeit von mehr als einer Viertelstunde nehmen. Siehe: Winfried Wolf, Bodensee-Motive auf WC-Scheiben – zur Eröffnung der elektrifizierten Strecke Ulm – Lindau in: KONTEXT, Stuttgart, Nr. 560, Dezember 2021; nachzulesen auch in seemoz. Als im Januar 2022 die Inbetriebnahme einer neuen S-Bahn-Linie aus der Schweiz über Österreich bis Lindau gefordert wurde, hieß es in der Lindauer Zeitung in einem Beitrag von Evi Eck-Gedler: „Im Zwei-Stunden-Takt sind die Züge der ‚Thurbo-Bahn‘ zwischen Romanshorn, Rorschach, St. Margrethen, Bregenz und Lindau unterwegs […] Was manchen stört: Diese Züge […] fahren nicht bis auf die Insel. Sie wenden vielmehr […] im Bahnhof Reutin. […] Die politisch Engagierten rund um Kreisrat Karl Schweizer üben in einem stadtweit verteilten Infoblatt Kritik, weil nach ihren Informationen die Ursache bei der Stadt Lindau zu suchen sei. ‚So funktioniert eine Verkehrswende nicht‘, kommentiert Schweizer.“

[10] Eine von uns und Freundinnen und Freunden eines sanften Tourismus propagierte Idee ist eine Bodensee-S-Bahn und damit die Möglichkeit, rund um den See die Kombination von Fahrrad, Bahn und Schiff nutzen und dafür einheitliche Tickets für umweltfreundliche Mobilität in den vier Ländern Deutschland, Österreich, Liechtenstein und Schweiz anbieten zu können. Siehe z.B. https://www.bodensee-s-bahn.org/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Bodensee-S-Bahn.

[11] So wird mir in der jüngsten Aussendung vom Management des Hotels Bayerischer Hof mitgeteilt, dass „die neu erstellte Therme in Lindau unser Angebot zusätzlich (bereichert)“ habe.