»Wir machen nicht mit!« (III)
Verfolgt, ermordet, totgeschwiegen und heute so gut wie vergessen. Eine Erinnerung an den von den Nationalsozialisten ermordeten Philosophen, Publizisten und radikalen Kriegsgegner Theodor Lessing anlässlich seines 150. Geburtstages.
Dies ist der dritte und letzte Teil des Essays. Teil I finden Sie hier, Teil II hier.
Lessing war ein empfindsamer Mensch und eine Rebellennatur. Seine Wurzeln hatte er im humanen Erbe der deutschen und europäischen Aufklärung. Mit einer Wissenschaft aber, Technik und Industrie, die der Zerstörung und dem Mord diente, und mit einer Philosophie und Geschichtsschreibung, die das noch rechtfertigte, wollte er fortan nichts mehr zu tun haben. Wie wenige seiner Zeitgenossen hat Lessing den historischen und kulturpolitischen Einschnitt des Ersten Weltkrieges wahrgenommen, begriffen und darunter gelitten. Und er sah deutlich voraus, wohin die nicht erfolgte Umkehr nach 1918 führen musste. Am 31. Januar 1933 sagt er im »Hannoverschen Volkswillen«: »Der menschliche Geist (…) steht heute an einem Punkte der Geschichte, wo die Wissenschaft, Chemie, Physik und Technik mit voller Sicherheit zum Untergang führen muss. Zur Selbstzerstörung des Menschen durch den Menschen. Zum Untergang der ganzen lebenden Erde, wenn nicht ein Volk aufsteht und verkündet: ›Bis hierher und nicht weiter!‹«
Wider den Fortschrittsglauben
Lessing ist angesichts der Trümmer und Ruinen, der Verstümmelten und Toten, der Opfer, die der Krieg kostete, nicht bereit, weiter einem wie immer gearteten Glauben an den Fortschritt der Menschheit anzuhängen. Als Vertreter der Aufklärung ist er zugleich ihr Widerspruch. Ähnlich Jean-Jacques Rousseau will er die Welt sehen, wie sie ist, ohne sie zu akzeptieren, wie sie ist. Mit einem Kulturpessimismus im oberflächlichen Sinne hat das nichts gemein. Lessing will sich und seine Leser, wenn es um den Zustand der Welt, das Verständnis von Geschichte, die Erkenntnis der Wirklichkeit oder um die Problematik von Krieg und Frieden geht, nicht in Illusionen wiegen. Als einer der bedeutenden Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts befasst er sich in seinem Werk »Der Untergang der Erde am Geist« mit der Stellung des Menschen zum Universum und fragt: Was hat der menschliche Geist aus der Welt gemacht? Seine Antwort: Die europäische Kultur mit ihrem Größen- und Machbarkeitswahn reiße im Vertrauen auf die industrielle Überlegenheit alles mit sich und weg, was sich ihr in den Weg stelle, steuere letztlich auf das Ende aller Kultur zu und führe in den Abgrund: in die Unterdrückung, Entfremdung und Gleichmacherei – nicht in die Befreiung und schon gar nicht ins Paradies. Lessing – und das macht ihn hochaktuell – führt uns vor Augen, in welchem Ausmaß der Mensch in der Lage ist, das Leben und die Natur zu zerstören, anstatt beides zu erhalten und sorgsam zu pflegen.
[the_ad id=“78703″]
Hans Mayer hat in seinem in den »Lebenserinnerungen« abgedruckten Essay »Bericht über ein politisches Trauma« Lessing als einen »Denker im Bereich der Gegenaufklärung« charakterisiert. Wie Rousseau misstraute Lessing der Vernunft als einem Garanten menschlichen Fortschrittes. Der Glaube an die Lern-, Vernunft- und Gesellschaftsfähigkeit des Menschen hat ihm angesichts der Realität nicht eingeleuchtet. Schärfer als viele andere sah er voraus, dass die Bedrohung des Menschen durch den Menschen durch nichts geschützt ist. So schmerzhaft es auch immer sein mag, spätestens seit »Auschwitz« muss man alles – aber auch wirklich alles – für möglich halten. Wer sich dieser traurigen Gewissheit in seinem Denken und Handeln verschließt oder gar das Gegenteil verkündet, ist eine philosophisch-politische Schlafmütze. Slogans wie »Am grünen Wesen werden Deutschland und die Welt genesen!«, würde Lessing mit Vehemenz zurückweisen und mit gattungsgeschichtlichen Argumenten als Augenwischerei ablehnen und sicher zu Recht attackieren.
Doch keineswegs hat Lessing der Ausweglosigkeit das Wort geredet oder sich ihr von der Warte eines Elfenbeinturms hingegeben. Er legte seinen Finger dort in die Wunde, wo sie sich immer mehr zu einem Geschwür auswuchs und von dort die Menschheit bedrohte. Intuitiv und dank seiner zutiefst verwurzelten Abneigung gegen die Dominanz des Militärischen erfasste er, dass die Gefahr für den Frieden von deutschem Boden ausging. Daher seine Warnung vor Hindenburg, den er – auch das nicht zu Unrecht – als Vorläufer von Schlimmeren begriff.
»Halt vom Hasse dich rein!«
Der Erste und Zweite Weltkrieg gingen nicht zwangsläufig aus der europäischen Geschichte und Kultur hervor, wie Christopher Clark und andere zur Entlastung der Hohenzollern behaupten – und auch Lessing ist nicht ganz frei von solcher Haltung, aber keineswegs aus denselben Gründen wie die heutigen Unschuldsapostel, die sich auf Clark berufen und allen Großmächten zu gleichen Teilen eine schlafwandelnde Verantwortung für den Zivilisationsbruch von 1914 zusprechen. Beide Kriege waren vor allem das Ergebnis der Verirrung jenes Geistes, der sich im Kaiserreich seit 1871 der Menschen und ihrer Köpfe bemächtigt hatte und der auch Lessing ausgesetzt und zunächst erlegen gewesen ist. Seine Abkehr von Gewalt- und von Freund-Feind-Kategorien – und damit für ein Zusammenleben der Menschen, das nicht weiter von Hass, Betrug, Verleumdung, Lüge, Misshandlung, Ausgrenzung, Verbrechen und Mord geprägt sein sollte – war grundlegend und bestimmte fortan sein Wirken für Frieden und soziale Gerechtigkeit sowie seinen Widerstand gegen eine Politik, die Ziele erstrebte, die sich nur durch Krieg erreichen ließen. In der Friedensbewegung der Weimarer Republik zählte er zu dem antimilitaristischen Flügel und wandte sich gegen die von deutschem Boden ausgehende Kriegsgefahr. Wie andere Pazifisten engagierte er sich in der 1926 gegründeten »Liga gegen koloniale Unterdrückung«, die auf eine Initiative der KPD zurückging. Seit 1922 gehörte er der SPD an.
Im Vorwort zu den »Lebenserinnerungen« Lessings weist Hans Mayer zu Recht darauf hin, dass jener sich vom »philosophischen Pessimismus« freigemacht hat. Das ist auch der Grund für Lessings Engagement in der Tagespolitik. Statt sich resigniert zurückzuziehen, hat er die politische Reaktion in Deutschland bekämpft, ihr widersprochen und darüber aufgeklärt, welch neue Katastrophe auf die Menschen und die Welt zusteuere, wenn es nicht gelänge, die Verherrlicher von Krieg und Gewalt, ihre Menschenverachtung und Fremdenfeindlichkeit in die Schranken zu weisen. Ungeachtet aller Klarsicht und seines »Ekels vor deutscher Geistigkeit und ihren Führern« und trotz der Mahnungen vor einer sich selbst zerfleischenden Menschheit, hielt Lessing an der Gewissheit fest, »dass eben nur Politik von Politik, nur die Geschichte von Geschichte« uns erlöst »von aller Willkür und Zufälligkeit des Nur-Persönlichen«. Dafür hat er im politischen Tagesgeschäft gestritten und vor dem »volksbetrügenden« Nationalismus gewarnt – wie es in der Auswahl von Artikeln und Abhandlungen in dem 1997 erschienenen Band »Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage« nachzulesen ist.
Lessing protestierte, den weiteren Irrweg und Irrsinn vor Augen, gegen das »Zeitalter der Verrohung und Verdummung«, gegen den Wahnsinn des Krieges und gegen die »Selbstzerstörung des Menschen durch die Menschen«. Einen Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler rief er seinen Landsleuten zu: »Halt vom Hasse dich rein!« Und: »Wenn man uns zwingen will zu Frevel an Leben und Erde, wir sagen: Nein! Wenn man uns pressen will zum Irrsinn im Namen des Gesetzes, dann brechen wir das Gesetz. Wir lieben das Vaterland tiefer, tiefer die Menschen.« Noch heute hallt das Echo dieses Bekenntnis nach – und wird noch immer kaum gehört oder ernstgenommen.
Der Erste Weltkrieg hat Lessing vor Augen geführt, in welchem Ausmaß der Mensch in der Lage war und ist, das Leben und die Natur zu zerstören, anstatt beides zu erhalten und sorgsam zu pflegen. Vor dem Hintergrund der Glorifizierung des Krieges in Deutschland als »Kulturerrungenschaft« und des mit solch Schwertglauben einhergehenden Massensterbens verfestigte sich in ihm, wie er schreibt, »die folgende letzte Erkenntnis: ›Alles kommt darauf an, in einem Reich erhabener menschlicher Narrheiten solche Sicherungen zu schaffen, welche, der Willkür der Person entzogen, dafür sorgen, dass kein Mensch fürder an dem andern, keiner an sich selbst Schaden anrichtet«.
Nach 1918 sah Lessing voraus, dass sich die Dinge nicht zum Guten wenden und die zerstörerischen Kräfte sich weiterhin anschicken würden, »als Herren der Welt diese zu missbrauchen und zu ‚vernutzen‘.« Das gilt auch und nicht zuletzt für den Raubbau des Menschen an der Natur, der uns vor einen Abgrund geführt hat und die sich dafür rächt, »dass sie zu des Menschen Sachwert und Gegenstand geworden ist.« Mehr denn je gelten heute Lessings Einsichten aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und den damit verbundenen Warnungen für die Zeiten danach – als Erbe und Auftrag.
Text: Helmut Donat, Bild: Signalschwarz auf Pixabay
Literatur
– Helmut Donat: Wider den unrühmlichen Umgang mit der Vergangenheit – Theodor Lessing und die Umbenennung der Hindenburgstraße in Hannover, Bremen 2022.
– Theodor Lessing: Bildung ist Schönheit – Autobiographische Zeugnisse und Schriften zur Bildungsreform, Bremen 1995.
– Theodor Lessing: Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage, Bremen 1997.
– Theodor Lessing: Einmal und nie wieder – Lebenserinnerungen. Hrsg. von Helmut Donat unter Mitwirkung von Jörg Wollenberg, Bremen 2022.