Asche unter blauem Himmel (I)

Teil 1/3

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Am Sonntag, eine Ewigkeit fast ist es her, bewegt sich ein Zug musizierender Fasnachter eine Straße in Konstanz entlang. Es ist kaum etwas los. Trommeln, Blechblasmusik, blauer Himmel. Dem Zug kommt eine Radfahrerin entgegen, sie lacht und winkt fröhlich. Als sie nah genug ist, schreit sie „Putin, Putin, Putin!!!“ Ein surrealer Moment.

Das Putin-Geschrei irritiert mich. Ich will etwas tun. Die Frau zurechtweisen. Mich provoziert ihre Fröhlichkeit. Ihre Zustimmung zum Krieg des russischen Präsidenten. Dann überfallen mich ambivalente Gefühle. Ich denke an die Worte des österreichischen Schriftstellers Robert Musil:

„Zitiere leise für dich ein Gedicht in der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft, und diese wird augenblicklich ebenso sinnlos werden, wie es das Gedicht in ihr ist“ [GW VIII, S. 1141f.]

Genau das geschah in dem Moment des Aufeinandertreffens von Fastnachtern und Putin-Anhängerin. Meine Wahrnehmung der Welt geriet ins Schwanken beim Versuch zu verstehen, was da geschehen war. Könnte es möglich sein, dass die Frau tatsächlich gar keine Ahnung von Fasnacht hatte und den Zug wirklich als Feier von Putins Krieg missverstand? Sie wirkte aufgeräumt, fröhlich und ganz und gar nicht ironisch, sarkastisch oder zynisch. Könnte es sein, dass Fasnacht zu feiern, während anderswo gerade ein brutaler Krieg geführt wird, bereits eine Art ‘fahrlässige Zustimmung’ ist – vor allem, wo anderenorts aus Karnevalsumzügen eindeutig Antikriegsdemonstrationen gemacht worden waren? Andererseits: Ist das nicht genau der Normalfall? Unser Normalfall? Schließlich leben wir auf Kosten eines Großteils der anderen – im sogenannten ‘globalen Süden’ etwa. Wäre das also nicht absurd, sondern ein messianisches Aufblitzen von Jetztzeit gewesen, wie Walter Benjamin sie verstand: ein plötzlicher Moment des Verstehens, arrangiert durch zwei Ereignisse, die nichts miteinander tun hatten. Eigentlich. (Eigentlich.) Doch dann wiederum: hilft es irgendwem, wenn wir nicht feiern, nicht genießen? Man kann ja auch tagsüber Fasnacht feiern und abends zur Ukraine-Mahnwache vorm Münster gehen.

Ich sehe mich noch auf der Paderborner Domplatte stehen im Jahr 1991. Plötzlich war Krieg. Zum ersten Mal hörte ich Kriegsmeldungen im Radio. Die machen mir Angst. Später kommen dann die unheimlichen videospielartigen Bilder des grünlich erleuchteten Himmels über Bagdad hinzu. An der Studiobühne der Universität-Gesamthochschule Paderborn spiele ich Theater. Gemeinsam mit anderen Studierenden fragen wir den Leiter der Studiobühne, ob wir nicht irgendein Zeichen setzen könnten. Er faucht uns an, das hieße unsere ganze Arbeit zu missachten, wenn wir jetzt irgendeine schlecht vorbereitete Celan-Lesung machten. Also wird weitergespielt. Alan Ayckborns „Season’s Greetings“, eine Komödie über familiäre Spannungen zu Weihnachten: „Der Dackel hat jetzt jede Glaubwürdigkeit verloren“ …

Meine Verunsicherung vertieft sich auf der Rheinbrücke. Dort sind mit Kabelbindern Pappschilder in den ukrainischen Farben angebracht – blau für den Himmel und gelb für die wogenden Kornfelder. Mittendrin ein Haufen Asche und die Reste eines blauen Tuches, das ich sofort für Reste der ukrainischen Flagge halte. Kann das sein? Dass in Konstanz eine ukrainische Flagge verbrannt wird. Unmöglich ist es nicht. Es gibt ja auch Fahrradfahrerinnen, die begeistert ‘Putin’ schreien.

Und dann wieder die Unsicherheit: hat sie wirklich „begeistert“ Putin geschrien? Oder fand sie es unmöglich zu feiern, während anderswo Krieg geführt wird und schrie deshalb den Fasnachtern „Putin“ entgegen? Eine Art rhetorische Minimalprotestformel.

Und dann wieder die Unsicherheit: wonach entscheide ich? Verfüge ich überhaupt über Kriterien, eine ‘richtige’ Entscheidung zu treffen? Die Situation ‘richtig’ zu interpretieren?

„Die richtige Seite muss in der Diskussion gefunden werden“ – „Was ist überhaupt die richtige Seite? Die eine richtige Seite?“ – „Natürlich gibt es sie nicht.“

Dieser Wortwechsel fiel in einer Folge der Kultursendung „Aspekte“ anlässlich der Besprechung der Ausstellung „Protestbereitschaft – Zeitgenössischer Aktivismus zwischen Haltung und Stil“, die gemeinsam von Studierenden der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und des Studiengangs Mode der Hochschule Pforzheim gestaltet wurde und bis Ende Januar im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen war.

Ich sehe die Sendung, und ich frage mich, ob man das heute auch noch so sagen würde. Heute, einen Monat nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine. Da ist man sich doch einig, welches die richtige Seite ist. Muss man wirklich erst diskutieren, um zu wissen, dass es richtig ist, die russische Aggression zu verurteilen? Ist es also manchmal doch so, dass es ganz klar und ganz einfach ist zu sagen, was ‘richtig’, was ‘falsch’ ist? Warum verwende ich dann noch Anführungszeichen? Gibt es nicht einfach Richtig und Falsch in der Welt: zwei plus zwei ist vier. Richtig. Zwei plus zwei ist fünf. Falsch.

Oder?

Text & Bilder: Albert Kümmel-Schnur