Friedenslogik wird diffamiert

FriedenstaubeÜber die mutige Berichterstattung aus Kriegsgebieten vom heimischen Schreibtisch aus zu beckmessern, das verbietet sich. Dringend notwendig ist jedoch, die schräge Tonlage zu beurteilen, die sich in Deutschland durch allzu viele mediale Kommentare, vor allem durch Interviews und Diskussionsrunden zieht.

Zwei Schreiben, unterzeichnet von ehrenwerten Menschen. Die einen verlangen in ihrem Aufruf vom 18. März unter anderem „die Einstellung des Aufkaufs jeglichen Öls, Erdgases und anderer Rohstoffe aus Russland“ sowie zugleich die Lieferung von auch schweren Defensiv- und bestimmten Offensivwaffen. Die anderen haben in dem offenen Brief an den Bundeskanzler ein ganz anderes Anliegen: „die vorherrschende Kriegslogik durch eine mutige Friedenslogik zu ersetzen und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas zu schaffen, dank einer aktiven Rolle unseres Landes“.

Aushängeschilder der ersteren, allen voran die frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, touren durch die Talkshows, werben für Waffenlieferungen und ein neues Zeitalter der Aufrüstung, bashen den angeblich viel zu zögerlichen Olaf Scholz und kassieren jede Menge Applaus, wenn sie Führung verlangen – ohne auch nur im Ansatz erkennen zu lassen, dass sie gewillt sind, darüber nachzudenken, ob das Vorgehen des Kanzlers nicht doch bedächtig und wohlüberlegt sein könnte. Die anderen ernten Schweigen oder machen die bittere Erfahrung kollektiver Häme. Etwa wenn Sascha Lobo im „Spiegel“ den Begriff „Lumpen-Pazifismus“ erfindet oder Oliver Welke in der „heute-show“ des ZDF den unermüdlichen Friedensaktivisten Jürgen Grässlin im Handumdrehen der Lächerlichkeit preiszugeben versucht.

Auftrumpfen dient weder Wahrheit noch Frieden

Das Niveau der Debatte lässt zu wünschen übrig. So wird die völlig richtige und nahezu einhellige Verurteilung des mörderischen russischen Überfalls auf den viel kleineren und schwächeren Nachbarn begleitet von einem ähnlich einhelligen Beschweigen ukrainischer Defizite, Stichworte: Korruption und Nationalismus. Werden die auch nur gestreift, wie kürzlich von Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) mit Blick auf einen beschleunigten EU-Beitritt, wird über solche Einwände hinweggegangen – unter Benutzung von Formulierungen, mit denen ZweiflerInnen gegenwärtig belegt werden: Er irritiere, sorge für Verwunderung, unterstütze den russischen Angriffskrieg.

Dazu ist Auftrumpfen angesagt. Es wird endlich mal abgerechnet mit jenen naiven, weltfremden und speziell in der SPD-Linken zu findenden ZeitgenossInnen, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht begreifen konnten oder wollten, was für ein Monster da in Moskau an der Macht war und wie verfehlt jegliche Kooperation mit ihm war. In Wahrheit waren die deutsch-russischen Beziehungen in den vergangenen Jahren insgesamt mitnichten feindselig. Dennoch findet heute allenfalls am Rande der warme Empfang Erwähnung, den der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit im Herbst 2001 Putin zuteilwerden ließ.

Demselben hohen Gast, der eineinhalb Jahre zuvor die tschetschenische Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche gelegt hatte, ohne dass Medienwelt und etablierte Politik hierzulande die Alarmglocken anhaltend läuten ließen. Ebenso wenig bei seinen folgenden Sündenfällen, von Georgien bis Syrien und Donbass. Oder als immer weiter unbequeme Mutige aus dem Weg geräumt wurden: von Anna Politkowskaja, die unter anderem russische Schandtaten in und um Tschetschenien aufdeckte und 2006 in Moskau vor ihrer Wohnungstür ermordet wurde, bis zum Putin-Kritiker Boris Nemzow, der neun Jahre später auf der Großen Moskwa-Brücke erschossen wurde – in Rufweite zum Kreml.

Wie wäre es mal mit Zwischentönen und Argumenten?

Wer in die Archive steigt auf der Suche nach Appellen an IOC und NOK, doch Abstand zu nehmen von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen in Sotschi, wird nicht fündig werden. Ebenso wenig nach wegweisenden, offensiv begründeten Unternehmens-Entscheidungen, in den vergangenen 15 Jahren gerade nicht in Russland zu investieren. Stattdessen gingen keineswegs nur damalige Bundesregierungen regelmäßig zur Tagesordnung über, sondern mit ihnen Oppositionsparteien, Vorstandsetagen und Redaktionen. Dieselben Akteure, von der FAZ bis zur CDU, machten über viele Jahre hinweg kein Geheimnis aus ihrem Stolz auf den bemerkenswert guten Draht, den Angela Merkel als einzige unter den westlichen StaatenlenkerInnen zu dem russischen Präsidenten aufgebaut hatte und zu pflegen wusste.

Die Empörung in Zeitungsspalten und TV-Berichten seit inzwischen bald 70 Tagen lebt dazu von Denkfehlern. Wenn es sich tatsächlich um „Putins Krieg“ handelt, wie die große Mehrheit der Medienwelt meint, wäre alles daran zu setzen, Keile zwischen ihn und seine Landsleute zu treiben, so schwierig dies auch sein mag. Stattdessen wird von einem nicht näher definierten Sieg der Ukraine geschrieben und gesprochen. Ein Meinungsaustausch über mögliche Verhandlungslösungen findet aber nicht statt. Stattdessen werden OstermarschiererInnen kurzerhand verunglimpft als russlandnah und jedenfalls nicht ganz von dieser Welt. Es ist, als hätten weite Teile der Gesellschaft nicht erst in, aber speziell infolge der Pandemie verlernt, Zwischentöne und Argumente zumindest in Ruhe anzuhören.

Das Friedenskonzept der unverteidigten Städte

Ein Beleg für die Schieflage ist das Ausbleiben eines nennenswerten Echos auf einen Vorschlag, den Grässlin, Luc Jochimsen oder Konstantin Wecker in ihrem Schreiben an Olaf Scholz aufgenommen haben. Norman Paech, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg und früher mal Linken-MdB, will das 1907 in der Haager Landkriegsordnung definierte Konzept der „unverteidigten Städte“ neu ins Gespräch bringen. Zu ihnen haben sich im Zweiten Weltkrieg viele Metropolen erklärt. In Artikel 25 wird „untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen“.

In der Kriegslogik möge die Übergabe einer Stadt „als Feigheit vor dem Feind gelten, in der Friedenslogik ist es die Klugheit vor einem Gegner, mit dem man sich in einer verträglichen Form nach dem Krieg arrangieren muss, um der Menschen willen“, schreibt Paech. Diese Haltung muss per se niemand teilen. Rotterdam oder Belgrad wurden im Zweiten Weltkrieg trotzdem von den Nazis niedergebombt. Viele Metropolen haben das Instrument genutzt, darunter Paris, Rom oder Athen. Das Thema zu diskutieren, wäre also des Schweißes der Edlen wert.

Dasselbe gilt für die Besinnung darauf, dass in diesem Krieg die Eskalation zumindest gebremst werden muss, wenn nicht irgendwann der nukleare Schlagabtausch zur ernsthaften Option werden soll. Und das mit allen Folgen für die Welt, die sich niemand ausmalen möchte. Oder darauf, dass es nicht zusammenpasst, einerseits Putins despotische Allmacht zu schildern und andererseits jeden Gedanken daran zu tabuisieren, dass selbst er früher oder später darauf angewiesen sein wird, einen Ausweg in Richtung Frieden oder zumindest Waffenstillstand einzuschlagen. Es liegt gar nicht zuletzt an den Medien, ob in dieser Situation ein Klima im Westen herrscht, das die dann fälligen Verhandlungen noch denkbar sein lässt.

Interviews mit anklagendem Unterton

Klicks und Quote bringt allerdings anderes. Andrij Melnyk beispielsweise mit seinen maßlosen Verbalinjurien gegen alle, die er als nicht auf der Seite der Ukraine stehend einstuft, in einer Schärfe, die jedeN BotschafterIn in Friedenszeiten sogleich disqualifizieren würde für weitere Auftritte. Aber weil Krieg ist und weil allzu viele meinen, dass angesichts der Gräueltaten der Invasoren der Zweck die Mittel heiligt, kann Selenskyjs Mann in Berlin immerfort und auf allen Kanälen selbst mit plumpsten Übergriffen um sich schlagen.

Gegenwärtig matcht er sich mit Düsseldorfs Ex-OB Thomas Geisel. O-Ton Melnyk: „Das Schlimmste an diesem ekelhaften Vorstoß von SPD-Ex-OB ist, dass das, was dieser gotterbärmliche Putin-Verehrer ausspuckt, viel zu viele Genossen dasselbe Mindset wie Schröder, Gabriel & Co. teilen, nur Muffensausen haben, das offen zu sagen. Das ist eine Schande.“ Der Sozialdemokrat hätte das Verhetzungspotenzial seines Versuchs einer Einordnung über viele Absätze und zu möglichen Wegen aus dem Krieg erkennen müssen, vor allem drei Wochen vor einer Landtagswahl. Inakzeptabel ist die Wortwahl des undiplomatischen Diplomaten dennoch.

Aber Melnyk ist gerne gesehener Gast – vom „Morgenmagazin“ bis „heute nacht“ und vor allem in den sonntäglichen Magazinen aus Berlin, wo sich VertreterInnen der Regierungsfraktionen im Wesentlichen im anklagenden Unter- und notorisch besserwisserischen Oberton zu ihrem unterstellten Versagen löchern lassen müssen. Nicht dass es kein vorwerfbares, auch moralisches Fehlverhalten gegenüber Putin gegeben hätte, allem voran die egomanischen Blindheiten des einstigen Medienlieblings Gerhard Schröder oder die kompasslose Geschäftigkeit des Außenministers Sigmar Gabriel. Trotzdem verirrt sich ein pseudo-kritischer Journalismus, wenn er es wie neuerdings üblich permanent darauf anlegt, PolitikerInnen vor laufenden Kameras das Eingeständnis persönlicher Fehltritte im Amt abzuzwacken. Oder sie in Interviews dazu zu drängen, endlich schwere Waffen zu liefern.

Und dann ist da noch das politische Kleingeld. Statt sich daran zu erinnern, wie SozialdemokratInnen, Grüne und sogar Linke in der Opposition immer mal wieder in Krisen oder bei äußerst schwierigen Entscheidungen zu Bundesregierungen aus Union und FDP standen, bekommt CDU-Chef Friedrich Merz zu viel Raum und zu viel Beifall für seinen Vorstoß im Bundestag, endlich also jene schweren Waffen zu liefern. Wäre sein Antrag erfolgreich, stünde das Ende der Ampelkoalition an – nebst Neuwahlen, und das in Zeiten wie diesen.

An der Front stirbt die Wahrheit

Dennoch bescheinigt die „Süddeutsche“ dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden, einen „wunden Punkt“ getroffen zu haben, und preist dies als „originäre Aufgabe der Opposition, die Regierung kritisch zu begleiten“. Dabei ergäbe saubere Recherche, dass die verlangte Überstellung von Kampf- und Schützenpanzern jedenfalls beim vielzitierten Marder an der Munition scheitert. Denn die lässt Rheinmetall in der neutralen Schweiz fertigen, was deren Export schlicht verbietet. Eine Umfrage auf Stuttgarts Königstraße übrigens, worum es sich bei schweren Waffen eigentlich handelt, würde ohne Zweifel eine mehr oder weniger kollektive Unwissenheit zutage fördern, was aber flammende Bekenntnisse zu deren Lieferung sicher nicht hindern würde. An der Front stirbt die Wahrheit. Und hierzulande die Bereitschaft, sich gerade nicht mit Scheingewissheiten zufrieden zu geben.

Text: Johanna Henkel-Waidhofer. Ihr Beitrag erschien zuerst auf: https://www.kontextwochenzeitung.de
Illustration: Joachim E. Röttgers