Zwischen allen Stühlen … Kiffen mit Erich

Mit Wolfgang Schulz, Live / Life und Miron Zownir, Berlin / New York eröffnete der Turm zur Katz in Kooperation mit der Universität Konstanz erstmals eine Fotografie-Doppelausstellung, die dort noch bis zum 3. Juli zu sehen ist.

„Erich, Göttingen, 1975“, das ist die lakonische Beschreibung des Porträts eines Mannes, das einem derzeit häufiger begegnen kann, wenn man durch Konstanz läuft. Erich guckt etwas verloren in die Kamera. Glasig – nun ja, bekifft eben. Lange Haare fallen strähnig auf einen nackten Oberkörper, ein kräftiger Vollbart, aus dem ein wenig Mund hervorlugt. Ein Joint läuft aus der Schärfe heraus, scheint sich während der Aufnahme noch ein wenig bewegt zu haben und erhält auf diese Weise auf dem Bild eine lichte Aura, die nicht von der Glut an seiner Spitze stammt, sich aber gut mit den anderen Glanzlichtern des Porträts verknüpft: auf den Haaren, auf der Brust, der Nasenspitze und nicht zuletzt dem irgendwie mexikanisch anmutenden Kopfschmuck aus Silberreif, bunten Perlen, roten Federn, die vielleicht nur Wollfäden sind.

als verdichte er eine ganze Zeit auf eine einzige Bildformel

Erich ist frontal fotografiert, ein wenig nach links aus der Bildmitte gerückt, vor einem diffusen Hintergrund, unten dunkel auf die Haare verweisend, oben hellbeige, mit dem Ton der nackten Haut korrespondierend. Erich ist das Bild eines Hippies und Jesus Christ Superstar, ein Schlagbild, dessen Sogkraft man sich kaum entziehen kann. Er sieht so aus, als verdichte er eine ganze Zeit auf eine einzige Bildformel.

Und ist eben dennoch einfach Erich aus Göttingen. Oder Erich, der in Göttingen Mitte der 1970er Jahre fotografiert wurde. So ist das Foto von Erich Superstar paradigmatisch für die Bildwelten, die die Ausstellung zeigt. Es sind einerseits fast ethnografisch anmutende Dokumente einer längst vergangenen Zeit. Und andererseits einfach verdammt gute Bilder, die in ihrer ästhetischen Kraft eben diesen Zeitrahmen transzendieren.

… einfach verdammt gute Bilder

Fotografiert hat sie Wolfgang Schulz, Fotograf und Herausgeber einer stilbildenden Zeitschrift mit dem ebenso schlichten wie programmatischen Namen Fotografie (1977-1985): „Ich wollte auch keine großen Dinge mit der Kamera vollbringen, außer den Fotografen nacheifern, deren Bilder mich anzogen, ohne dass sie erklärt werden mussten. […] Ich hatte beim Betrachten dieser Bilder immer das Gefühl, dabei gewesen zu sein.“

Und das hat man. Das Gefühl mitten drin zu sein in einer Zeitfalte zwischen damals und heute. Dazu trägt auch die hervorragende Kuration der Ausstellung bei. Sie wurde von Bernd Stiegler und Anna Martinez Rodriguez gemeinsam mit Studierenden des Studiengangs Literatur-Kunst-Medien entwickelt.

… wie eine Streifentapete

Wenn man reinkommt, sind direkt rechter Hand Cover dieser Zeitschrift zu sehen. Geradezu wird der Fotograf vorgestellt (Erich hängt an der nämlichen Wand), während linker Hand Fotografien einer Irlandreise hängen, darunter eines, das extrem deutlich die Grundspannung dieser Bilder zeigt: Man sieht eine Straßenszene mit zwei Frauen, „Hausfrauen“ sagt der Katalog aus Irland. Auch 1975 fotografiert, im selben Jahr wie Erich aus Göttingen. Während die eine in hellrosa Pullover und schwarzweiß kariertem Rock, ein Paket im Arm, einen Besen in der Hand, plüschbesetzte Puschen an den Füßen, gerade stehend die Kamera konfrontiert, schaut die andere – schwarzweiß kariertes Oberteil mit hellrosa Rand und hellrosa gemusterte Schürze aus einem türkisfarbenen Türrahmen  – schräg ins Bild hinein. Die backsteinerne Hauswand, die hinter den beiden in die Bildtiefe läuft, wirkt wie eine Streifentapete: türkis, weiß, gelb, rot, türkis, gelb, rot, gelb, rot … Im aus Besen und Hausfrauenkörper gebildeten Dreieck zeigt sich ein Moped, das einen deutlichen roten Akzent setzt, während hinten vorm Gelbgrau einer Backsteinwand ein alter Ford einen blauen Farbton platziert. Zur Rechten wird das Bild begrenzt durch einen Baum, der just auf Hälfte des Bildes in die Höhe wächst, während die besenhaltende Frau das Bild in zwei gleiche Teile teilt: so entsteht ein Quadrat, das gleichmäßig in vier kleine Quadrate untergliedert ist. Tolles Bild!

Wahrheit – ach, was ist das schon?!

Und wie lässig einen der Fotograf, der auf einem Bild im Erdgeschoss noch ausgelassen herumalberte, vom Sofa aus anschaut, wenn man nun die steile Treppe ins erste Obergeschoss hinaufsteigt. Ein Selbstporträt, gelangweilt mit halb geschlossenen Augenlidern, den Kopf auf einen Arm gestützt. Und eben: nicht die Wahrheit – ach, was ist das schon?! -, sondern eine Pose, die eine Wahrheit sui generis kreiert und behauptet. Direkt neben dem Bild, getrennt durch zwei sprechende Zitate von Wolfgang Schulz – auch diese sorgfältig ausgewählten Textbausteine sind mehr als illustrierend-kommentierender Zierrat, sie sind selbst Objekte, die in eine Spannung zu den nichtsprachlichen Objekten dieser Ausstellung treten -, getrennt also durch zwei kleine Textblöcke hängt eine streng rasterförmig angeordnete Serie aus neun Fotografien, die Gebüsch zeigen, assoziativ – so lässt uns das ein weiteres Zitat vermuten – als Nervengeflecht (das von Schulz? von dem Typen, der da so dandyhaft posierend das Sofa nicht verlässt?) deutbar.

Da ist nichts Peinliches

Drei Wände zeigen uns, was dieser Typ so sieht, wohl eher nicht vom Sofa aus – auch wenn einen die dem Sofabild diagonal gegenüberliegende Raumecke einen etwas angeranzten gemütlichen Sessel auf angeranztem Teppich mit angeranzter Literatur (Camus …) anderes vermuten lässt: da sind Alltagsszenen, Titten, Schamhaar, ein pissender Pimmel überm Waschbecken. Und gegenüber sieht man Porträts – teils Gesichter, teils aber auch große Brüste in engen Pullis oder Reißverschlusszonen von Jeans überdeckt, betont von großschnalligen Ledergürteln. Das Tolle an diesen Bildern: sie sind intim, ohne voyeuristisch zu sein. Da ist nichts Peinliches, nicht mal am Urinstrahl ins Waschbecken, der so hübsch symmetrisch das Bild in zwei Hälften teilt. Und sie sind lustvoll, ohne übergriffig zu werden, all diese Hosenschlitze und zwei Nummern zu enge Oberteile.

Leichtfüßig geleiten uns drei Bilder einer Treppe steigenden Frau hinaus aus dem zweiten und hinüber ins dritte OG, wo von schwarz gestrichener Wand ein knallig-gelebes „Hi“ heruntergrüßt. Hier geht’s um die Musik der Zeit. Und hier nimmt sich die Ausstellung mit Plattencovern und einem Bildschirm, der Aufnahmen von Rockkonzerten mit Fotografien verschnitten zeigt, den Raum, einen historischen Kontext anzudeuten, ohne diesen jedoch je in eine allzu weit entfernt liegende Vergangenheit zu verweisen: ja, das sind vielleicht die fernsten Bilder dieser Ausstellung. Und doch: auch hier ist es ganz leicht, sich zu verbinden. Dafür sorgt die ästhetische Strenge der Bilder: Rauchende etwa sind da auf einer ganzen Wand zu sehen, alle im Halb- oder Dreiviertelprofil in dieselbe Richtung den blauen Dunst blasend.

Urbanität in der badischen Provinz

Wer die letzte Treppe ersteigt, erhält zunächst eine jener heutzutage nicht mehr wegzudenkenden Triggerwarnungen: jetzt werden die Grenzen des guten Geschmacks überschritten. Wir verlassen den Bildkosmos Wolfgang Schulz‘ und sehen Fotos von Miron Zownir, der Stricher, Drogensüchtige, Transpersonen in Berlin und New York fotografiert hat, meist provokativ entblößt. Aber auch die Kamera Zwornirs, dessen Bilder Beispiele für das in Fotografie Gezeigte sind, agiert nicht denunziatorisch. Sie ist auf Augenhöhe. Das ist kein ethnografischer Blick. Das sind eher Aufnahmen auf Augenhöhe und face-to-face. Aufnahmen, die Inszenierungen inszenieren. All die Geschlechtsorgane, zerfurchten oder überdrehten Gesichter, die hier gezeigt werden, hinterlassen kein schales Gefühl, sie drängeln Besucher:innen nicht in die Rolle von Schlüssellochguckern, sondern ermöglichen Begegnungen mit einer anderen Welt. Das Lachen des Jungen mit der offenen Hose ist offen, unverstellt. In aller Schrillheit, aller Posiertheit artikuliert sich hier etwas ganz einfach Menschliches.

„Hi“

Es ist ein Glück, dass der Fotohistoriker und Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler nunmehr seit Jahren Studierenden und einem interessierten Publikum solche Welten öffnet. Es ist ein Glück, diese zum Heulen schönen Ausstellungen sehen zu dürfen: Ein kleines Moment Urbanität in der badischen Provinz.

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Ausstellung „Wolfgang Schulz. Live/Life – Miron Zownir. Berlin/New York“, bis 03. Juli 2022. Turm zur Katz, Kulturzentrum am Münster, Wessenbergstraße 43, 78462 Konstanz.

Öffnungszeiten: Di–Fr 10–18 Uhr, Sa & So 10–17 Uhr, Montags geschlossen.

Der Besuch des Turms zur Katz aktuell mit der 3G-Regelung möglich – Impfnachweis oder Genesungsnachweis oder tagesaktueller Schnelltest (24h) oder PCR-Test (48h). Zusätzlich ist das Tragen einer FFP2-Maske erforderlich.

Preise: Erwachsene: 3 €, Ermäßigt: 2 €, Sozialpassinhaber: 1 €, Freier Eintritt an jedem 1. Sonntag im Monat. Als ermäßigt gelten Kinder bis einschließlich 17 Jahre und Studierende mit gültigem Ausweis.

Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder:Wolfgang Schulz obere zwei Bilder, Miron Zownirmuntere zwei Bilder, zur Verfügung gestellt vom Veranstalter.