Was macht den Holocaust geschichtlich so einzigartig?
Die Vernichtung des europäischen Judentums zwischen 1941 und 1945 durch deutsche Täter und einige nichtdeutsche Helfer hat nachfolgenden Generationen eine zentrale moralische Verpflichtung auferlegt, so der Philosoph Theodor W. Adorno 1966 in seinem Radiovortrag „Erziehung nach Auschwitz“. Überlegungen zu einem Menschheitsverbrechen sind das Thema eines Vortrags am 30.6. im Konstanzer Bildungszentrum.
„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“, so Adorno. Im Gedenken an diese Aussage legt der Vortrag dar, dass und weshalb der Massenmord an den europäischen Juden in der Tat ein Verbrechen ganz eigener, singulärer Tragweite, Struktur und Tätermotivation war. Wer die spezifische Einzigartigkeit des Holocaust nicht begreift, kann nämlich auch den Sinn von Adornos Postulat nicht erfassen.
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass die Präzedenzlosigkeit der „Endlösung der Judenfrage“ keine Fragen nach Opferhierarchien oder moralisch abzustufenden Massenmorden aufwirft, denn das Leid von Mordopfern lässt sich nicht in einer Art Rangordnung klassifizieren. Jeder Mord ist gleichermaßen unmoralisch und Leid verursachend, und kein Unglück geschundener Menschen lässt sich gegen die Qual und Not anderer Menschen aufrechnen. Ob Juden oder Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene oder Homosexuelle, Menschen mit Behinderung oder politisch Verfolgte – jeder Mord und jede Misshandlung trifft Menschen, und als Menschen sind sie alle gleich.
Was jedoch den Holocaust von allen anderen Massen- und Völkermorden unterscheidet, ist die spezielle Motivation der Täter, ihre umfassend rassenbiologisch-antisemitische Weltsicht mit all ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und Folgen, ihrer äußersten Radikalität und Universalität, die totale Paranoia, mit der die Juden zum heilsgeschichtlich zu eliminierenden Übel an der Welt und dem deutschen Volk erklärt wurden. Dieser „Erlösungsantisemitismus“ (Saul Friedländer) mit den Juden als dem qua „Rassennatur“ intrinsisch Bösen und seine tiefe Verankerung in der deutschen Alltagskultur stellt ein historisches Unikum dar, das mit letzter Konsequenz zur Tat drängte und die globale Auslöschung eines jeden jüdischen Menschen forderte und betrieb. Erst der totale Wahn und die umfassende Personifikation aller Übel, Misslichkeiten und Pathologien der modernen, industriekapitalistischen Welt mit dem „jüdischen Geist“ ermöglichte es, jede Jüdin und jeden Juden unseres Planeten mit dem Moment der Zeugung zum Tode zu verurteilen.
Der Vortrag am 30. Juni entfaltet die Singularität des Holocaust also mit Blick auf die antisemitische Weltanschauung der Täterinnen und Täter sowie die sich daraus ergebende Art und Tragweite der Tat. Neuere, besonders postkoloniale Versuche, den Holocaust zu relativieren und unter eine ganz andere Kategorie genozidaler Verbrechen zu subsummieren werden am Ende des Vortrags in aller gebotenen Kürze besprochen und kritisch kommentiert. Für Fragen, Anmerkungen und eine offene Diskussion steht der Referent im Anschluss an den etwa 60-minütigen Vortrag gerne zur Verfügung.
Wann? 30.6.2022, 19.30 Uhr
Wo? Konstanzer Bildungszentrum, Münsterplatz 11
Text: Hans-Peter Büttner
Bild: Bundesarchiv B 285, Bild-04413, KZ Auschwitz, Einfahrt
Ich kenne den Vortrag natürlich noch nicht. Aber Hans-Peter Büttner ist ein profunder Kenner ganz vieler historischer Details im Zusammenhang mit aktuellem und früherem Antisemitismus. Ich habe schon einige seiner Vorträge gehört, auch zu anderen Themen.
Ich empfehle einen Besuch der Veranstaltung, denn ich gehe davon aus, dass er auch zu diesem Thema Erhellendes beizutragen hat.