Die (Gäu-)Bahn darf nicht verkümmern
Vor der Sitzung des Stuttgart-21-Lenkungskreises am 18. Juli formiert sich der politische Widerstand gegen eine längerfristige Unterbrechung der Gäubahn in Stuttgart Vaihingen. In einem gemeinsamen Schreiben sprechen sich alle demokratischen Bundes- und Landtagsabgeordneten aus den Wahlkreisen entlang der Gäubahn gegen eine Unterbrechung in Stuttgart-Vaihingen aus. Sie fordern den Erhalt der IC-Haltepunkte Böblingen und Singen und eine leistungsfähige Südanbindung der Gäubahn.
Hier das Schreiben in vollem Wortlaut:
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Lenkungskreises von S 21,
sehr geehrter Herr Landesminister Hermann,
sehr geehrte Damen und Herren,
[the_ad id=“87862″]es steht eine maßgebliche Weichenstellung für die Zukunft der Gäubahn an. Dabei geht es um nichts weniger als die Frage, ob künftig eine leistungsfähige Magistrale zwischen Berlin und Italien mit einer wichtigen Teil-Verkehrsachse Richtung Zürich, Gotthard und Mailand existiert und so die Region Stuttgart an die Schweiz und die Region entlang des Neckars bis zum Bodensee anbindet, oder ob das südliche Baden-Württemberg mit zahlreichen Weltmarktführern und Mittelständlern vom Bahnverkehr in Richtung Norden abgehängt wird. Ein leistungsfähiger Bahnverkehr mit zuverlässigen und schnellen Anbindungen zwischen diesen starken Wirtschaftsregionen stellt eine wirkliche Alternative zum Auto oder dem Flugzeug dar. Damit ermöglichen wir auch diesen Regionen die Chance, zum Klimaschutz beizutragen und gleichzeitig die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten oder gar zu verbessern.
Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags und des Landtags von Baden-Württemberg mit Wahlkreisen entlang der Strecke der Gäubahn, stellen daher die folgenden Forderungen:
- Die Gäubahnstrecke darf nicht unterbrochen werden. Eine solche Unterbrechung widerspräche den Versprechungen zum Zeitpunkt des Volksentscheids zu Stuttgart 21, die zwar eine halbjährige Unterbrechung enthielten, aber eine klare Zusage für einen Anschluss an den Stuttgarter Flughafen und eine Einschleifung in den neuen Tiefbahnhof enthielt. Die Bürgerinnen und Bürger entlang der Gäubahn haben sich mit deutlicher Mehrheit für Stuttgart 21 entschieden, auch wegen dieser Zusage. Die jüngst erfolgte Absage der Deutschen Bahn AG bezüglich eines vorübergehenden Weiterbetriebs der sog. Panoramastrecke bis zu einem Zusatzhalt im Norden Stuttgarts bricht mit diesem gegebenen Versprechen.
- Die Planungen für den langen Pfaffensteigtunnel zwischen Stuttgart-Vaihingen und dem Flughafen Stuttgart müssen rasch vorangetrieben und die bisherigen Planungen zum Planfeststellungsabschnitt PFA 1.3b eingestellt werden. Die Entscheidung des Lenkungskreises zu Stuttgart 21 von Anfang Mai 2022 ist hierzu ein wichtiger Schritt. Planung und Bau müssen jetzt verbindlich finanziert und eine schnellstmögliche Realisierung sichergestellt werden.
- Sämtliche Beschleunigungsmöglichkeiten sind zu nutzen, um den Zeitpunkt der direkten Unterbrechung der Gäubahn an den neuen Tiefbahnhof zu minimieren. Wir fordern ein Konzept für den mehrjährigen Zeitraum zwischen der Inbetriebnahme des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs und der Inbetriebnahme der Anbindung der Gäubahn über den Bereich auf den Fildern zum neuen Stuttgarter Hauptbahnhof. Eine jahrelange Unterbrechung der Strecke durch einen Umsteigehalt in Vaihingen macht die Strecke für den ICE/IC Fernverkehr noch unattraktiver und ist inakzeptabel. Demgegenüber müssen Alternativstrecken wie bspw. die Panoramabahn als Überbrückung für die Bauphase genutzt werden.
- Den Erhalt des ICE-Halts in Böblingen und den Halt Singen Hauptbahnhof. Der ICE-Halt Böblingen wird der herausragenden wirtschaftlichen Bedeutung sowie dem Siedlungsumfang des Raums Böblingen/Sindelfingen gerecht. Böblingen ist der wirtschaftsstärkste Landkreis in der Region und im Land. In Böblingen gibt es ein tägliches Fahrgastaufkommen von ca. 40.000 Personen. Singen ist ein wichtiger Umstiegspunkt auf die Nahverkehre am Bodensee mit einem Fahrgastpotential von ca. 46.000 Einwohnern. Der Halt der Gäubahn im Hauptbahnhof Singen und damit ein direkter Anschluss der Gäubahn an das Fernverkehrsnetz über den Flughafenbahnhof ist dringend erforderlich. Ein Halt an der Landesgartenschau ist aufgrund der Umstiegshindernisse nicht akzeptabel.
- Weiter fordern wir einen leistungsfähigen Südzulauf über die Gäu-Neckar-Bodensee-Bahn, um den Süden Baden-Württembergs umstiegsfrei über die Gäubahn erreichbar zu machen. Die Eingleisigkeit in Teilen der Strecke stellt momentan dafür ein enormes Problem dar, weshalb die Pläne für verschiedene Doppelspurinseln zwischen Horb und Singen unbedingt weiterverfolgt werden müssen.
Die Deutsche Bahn muss die digitale Sicherungstechnik mit elektronischen Stellwerken auf allen Streckenabschnitten, insbesondere aber im südlichen Abschnitt bis zur Schweizer Grenze in die Gegenwart vorziehen und nicht erst zum Zeitpunkt der Gleisarbeiten in die 2030er-Jahre verschieben. - Die Gäubahn muss in den Deutschlandtakt der Deutschen Bahn eingebettet werden, um den Fahrgästen eine gute Anbindung an das restliche bundesweite Schienennetz zu gewährleisten.
Die Planung und Umsetzung der Gäubahn darf nicht weiter verzögert werden. Um die Mobilitätswende und eine attraktive Alternative zum Individualverkehr zu schaffen, muss der Ausbau der Gäubahn vorangetrieben und zeitnah abgeschlossen werden.
Wir erlauben uns eine Durchschrift an das Bundesministerium für Verkehr, Herrn Bundesminister Wissing und Herrn Parlamentarischen Sekretär Theurer zuzuleiten.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Dieter Scheerer MdL (FDP/DVP), Wahlkreis Leonberg; Daniel Karrais MdL (FDP/DVP), Wahlkreis Rottweil; Matthias Miller MdL (CDU), Wahlkreis Böblingen; Florian Wahl MdL (SPD), Wahlkreis Böblingen; Thekla Walker MdL (Grüne), Wahlkreis Böblingen; Sabine Kurtz MdL (CDU), Wahlkreis Leonberg; Peter Seimer MdL (Grüne), Wahlkreis Leonberg; Thomas Blenke MdL (CDU), Wahlkreis Calw; Dr. Timm Kern MdL (FDP/DVP), Wahlkreis Freudenstadt; Katrin Schindele MdL (CDU), Wahlkreis Freudenstadt; Stefan Teufel MdL (CDU), Wahlkreis Rottweil; Frank Bonath MdL (FDP/DVP), Wahlkreis Villingen-Schwenningen; Martina Braun MdL (Grüne), Wahlkreis Villingen-Schwenningen; Nikolai Reith MdL (FDP/DVP), Wahlkreis Tuttlingen-Donaueschingen; Guido Wolf MdL (CDU), Wahlkreis Tuttlingen; Hans-Peter Storz MdL (SPD), Wahlkreis Singen; Dorothea Wehinger MdL (Grüne), Wahlkreis Singen; Marc Biadacz MdB (CDU), Wahlkreis Böblingen; Tobias Bacherle MdB (Grüne), Wahlkreis Böblingen; Jasmina Hostert MdB (SPD), Wahlkreis Böblingen; Dr. Florian Toncar MdB (FDP), Wahlkreis Böblingen; Anette Widmann-Mauz MdB (CDU), Wahlkreis Tübingen; Christian Kühn MdB (Grüne), Wahlkreis Tübingen; Dr. Martin Rosemann MdB (SPD), Wahlkreis Tübingen; Klaus Mack MdB (CDU), Wahlkreis Calw; Saskia Esken MdB (SPD), Wahlkreis Calw; Derya Türk-Nachbaur MdB (SPD), Wahlkreis Schwarzwald-Baar-Kreis und Oberes Kinzigtal; Dr. Lina Seitzl MdB (SPD), Wahlkreis Konstanz; Andreas Jung MdB (CDU), Wahlkreis Konstanz; Maria-Lena Weiss MdB (CDU), Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen; Thorsten Frei MdB (CDU), Wahlkreis Schwarzwald-Baar-Kreis und Oberes Kinzigtal; Dr. Ann-Veruschka Jurisch MdB (FDP), Wahlkreis Konstanz.
Text: MM/red, Bilder: Winfried Kropp
Wenn die Bürger*innen gewusst hätten, was nach der Volksabstimmung auf sie zukommen würde und wie sie über die Kosten und Einschränkungen belogen wurden, hätten sie anders abgestimmt.
So ärgerlich die Pläne der Bahn sind: Die BürgerInnen, die sich entlang der Gäubahn mehrheitlich für Stuttgart21 entschieden haben, sind auch selber schuld. Konnten oder wollten sie bei der S21-Abstimmung nicht über den Tellerrand hinausschauen?