Zwischen allen Stühlen … von Theopraxen und Praktikorien
Da kraxelt es wieder mühsam gramgebeugt, Schmerzen am ganzen Körper, wo doch nur drei oder, ach, im Zeitalter des Maschinenschriftlichen von mir aus auch zehn Finger arbeiten, sich einen Berg in die eisigen Höhen hinauf, wo die Luft so dünn ist, dass man schon darauf hoffen darf, dass sich hier nicht allzu viele tummeln. Nicht wahr? Geben Sie es zu, das haben Sie doch auch gedacht, genau das, nicht wahr, als sie die Wortungetüme des Titels lasen? Da schwätzt mal wieder so’n Unimensch daher, wie er es und man ihn eben deshalb nicht versteht.
Theorie und Praxis scheinen einander spinnefeind, weit mehr noch als der Gießberg und das untere Paradies, will man einem wohlgepflegten lokalen Märchen glauben. Die einen da oben in der dünnen Luft in ihrem weißglänzenden Turme, die anderen, ja, die anderen, mit beiden Füßen im Bathos[1] der Erfahrung festklebend. Zueinander kommen sie wie die traurigen Königskinder leider nicht.
… ziemlich viel sortierender Aufwand …
Einer, der immer geglaubt hat, dass das Quatsch ist, hieß Bruno Latour, der am 9. Oktober verstorbene französische Philosoph und Anthropologe. Ob er Konstanz gekannt hat, weiß ich nicht. Über die Lieblingserzählung von denen oben auf dem und denen unten am Berg hätte er jedenfalls gelacht, weil es ziemlich viel sortierenden Aufwand braucht, um soviel Entflechtung zu leisten, damit man überhaupt zwei Welten einander als getrennte sich gegenübertreten lassen kann.
Am Beispiel: Die Universität ist nicht nur der größte Arbeitgeber am Ort – also viele Konstanzerinnen und Konstanzer, die mit Wissenschaft nichts zu tun haben, verdienen dort ihr Geld. Man kann schlecht auf ‚die da oben zeigen‘, wenn man sich selber dazuzählen müsste. Außerdem hat die Universität von ihren Anfängen 1966 im Inselhotel an die Stadt massiv verändert – ein Großteil der Studierenden der ersten Stunde kam nicht aus Konstanz, hat sich aber in der kleinen Stadt niedergelassen und sie kulturell in mancher Hinsicht ‚aufgemischt‘ (das konnte man 2009 in der Ausstellung „69-96: Kreativität oder Krawall? Linksalternatives Leben am Seerhein“ im Richental-Saal nachvollziehen). Dass die Universität also mit der Stadt so wenig verwoben sei, dass man sie erst in sie hineinzwingen müsse, ist also von Tag eins an Unsinn gewesen. Und meine waren nur zwei der offensichtlichsten Beispiele.
„Wir sind nie modern gewesen“
Das ist auch die Quintessenz des wohl wichtigsten programmatischen Buches Bruno Latours: „Wir sind nie modern gewesen“. In diesem Text beschreibt er die Moderne als ein künstliches, an den choses de la vie völlig vorbeigehendes Säuberungsprojekt: hier die Menschen, da die Dinge, hier die Tiere, da die Zeichen usw. Wir sind niemals jene Phantasmen gewesen, als die uns die Moderne haben wollte. Vielmehr sind wir immer schon hoffnungslos verwickelt gewesen in die Welt, vernetzt, verwoben, verbunden mit anderen und anderem, Mischwesen, Hybride nicht erst dann, wenn wir uns selbst als Cyborgs entdecken, sondern bereits, wenn wir beginnen, Werkzeuge zu benutzen. Mensch – Hammer – Bleistiftkreuz an der Tapete – Wand – Nagel: das ist ein systemischer Verbund oder, in Latours Begrifflichkeit, ein Hybridwesen, ein Netzwerk von Akteuren keine additive Verbindung eines handelnden Menschen mit nicht-handelnden, bloß passiv die menschlichen Handlungen erduldenden Nicht-Menschen.
Theoriehandeln und Praxisdenken
Und so waren es auch Latours Texte, die mir halfen, die Verbindungen von Theorie und Praxis zu denken: Theoriehandeln und Praxisdenken. Genauso wollte ich meine als Ausstellungen, Videoprojekte oder andere Aktionen im öffentlichen Raum durchgeführten Seminare verstanden wissen, ganz im Sinne des Bonmots, mit dem Gilles Deleuze sein Kinobuch beginnt: Filmen ist Denken mit der Kamera.
Mit Latour müsste man ergänzen: Filmen ist die Entscheidung, in einem Kollektiv aus Mischwesen zu agieren und ‚denken‘ ist in diesem Kollektiv ein auf viele Akteure und mindestens ebensoviele Patienten (also denjenigen, die in den Aktionen der anderen behandelt werden) verteilter Prozess. ‚Es denkt‘ war dafür immer schon ein guter Begriff. Möglicherweise hat Latour hier von Gregory Batesons Ökologie des Geistes gelernt. Möglicherweise kann ich aber auch nicht mehr so ganz genau unterscheiden, welche Meister und Meisterinnen mich was gelehrt haben. Die Achtsamkeit gegenüber den Behandelten etwa, den Patienten jener zweiwertigen Beziehung, die wir für gewöhnlich nur aus der Perspektive des aktiven Partners heraus würdigen, habe ich eher dem britischen Sozialanthropologen Alfred Gell als Bruno Latour zu verdanken.
Ach, ach – Sie merken es schon bei der Lektüre: ich bin ein elender Wasserkopf, der einfach zuviel gelesen hat. Bleiben wir für einen Moment bei Latour. Welche Rolle spielten nun seine Texte in meinen praxisbezogenen Lehrprojekten?
… ein elender Wasserkopf, der einfach zu viel gelesen hat
Erstens haben mir die dreigliedrige Struktur aus Menschen, Dingen und Zeichen, der die Trias sozial, technisch, semiotisch nicht ganz homolog zugeordnet war, sowie das Denken in Operationsketten geholfen, Material zu strukturieren und zu restrukturieren. Welche Aspekte mussten bedacht werden, um ein einigermaßen plastisches Bild einer Sache, eines Ereignisses, eines Mediums zu erhalten? Wie kann man insbesondere materielle Objekte analysieren, ohne reduktionistisch zu werden? Ich habe ja viele Jahre mit und in der Telefonsammlung von Hans-Dieter Schmidt gearbeitet (siehe meinen Abgesang auf sie in seemoz). Da war es wichtig, Analysemodi zu finden und Studierenden an die Hand zu geben, die die technischen Kisten und Zusammenhänge, mit denen ich und sie es zu tun hatten, nicht einfach geschlossen ließen oder sofort wieder auf Texte hin zu überspringen und somit als Artefakte gar nicht wahrzunehmen (letzteres passiert in universitären Seminaren viel zu häufig).
Latour half uns zu verstehen, dass wir es gar nicht mit geschlossenen Kisten, sondern einfach mit Knoten in einem Netzwerk zu tun hatten. Und sorgfältig wie bei fest verknoteten Schnürbändern musste man diese nun auflösen. Wer das einmal bei Schnürbändern gemacht hat, weiß, dass das keine einfache oder auch nur in all ihren Teilen sinnvoll systematisierbare Aufgabe ist. Da muss man mal dort ein wenig ziehen und hier den Fingernagel hineinbohren, bis irgendwann irgendwo sich etwas löst. Genau dort arbeitet man dann weiter.
Kiste aufschrauben, aufhebeln und hineinsehen
So kann man etwa ganz klassisch Objekte vermessen, indem man sie etwa wiegt. Man kann Texte finden, die das Gewicht – etwa die besondere Leichtigkeit des Handapparats der M75er Reihe (ja doch, dieser moosgrünen und weinroten flachen Apparate, die erstmals mit Tastenwahlblock auftraten und v.a. in den 1980er Jahren verbreitet waren) – kommentieren. Und dann stellt man fest: da stimmt was nicht. Manche Handapparate – vulgo: Hörer – sind leicht, andere sind deutlich schwerer. Also: Kiste aufschrauben, aufhebeln und hineinsehen. In den schwereren Plastikschalen findet man zwei Metallstücke. Klar, irgendwas Technisches. Pustekuchen. Nix Technisches! Da gibt es keine erkennbare Funktion.
Also zurück zum Text. Aber eben keinem technischen Text, sondern direkt hinein in die Beschwerdeabteilung der Deutschen Post. Unzufriedenes Klientel, aufgeregte Kundschaft. Die Hörer sind zu leicht! Man kann sie nicht mehr wütend auf die Gabel werfen! Ach so? Die Metallstücke sind also materielle Kommunikationsmedien, technisch haben sie keine Funktion, sie organisieren soziale Verhältnisse! Denn die Post beugte sich dem anstürmenden Ärger und machte den Innovationsstolz ihrer Ingenieure und Designer rückgängig. Da haben wir’s – ein klassisch Latour’sches Akteursnetzwerk aus Technikern, Materialien (ABS-Kunststoff, Eisenstücken), telefonierenden Kunden, Beschwerdestellen, Managemententscheidungen, kommunikativen Gewohnheiten … Eine Blackbox, reversibel ausgeweißt.
Zweitens waren Latours Begriffsungetüme – die Hybriden, die Operationsketten, die faîtiches, die Aktanten, die Monstren, immutable mobiles und reversiblen Blackboxen – sehr konkrete Stützen bei der Neuorganisation von Materialien in Ausstellungen. Es wundert mich gar nicht, dass Latour irgendwann selbst zum Ausstellungsmacher wurde: sein Denken ist räumlich und in Räumen vielleicht sogar besser verständlich als in den zwei Dimensionen, die ein gedruckter Text oder ein oszillierender Bildschirm bieten. Ein Denken in Netzwerken kommt immer an Grenzen, wenn man es in der Linearität eines Textes darstellen will. Ich finde die Kopräsenz von Elementen im Raum, die erst durch eine betrachtende Auswahl linearisiert wird, ein sehr geeignetes Medium für die Repräsentation und Reflexion vernetzter Zusammenhänge. Einmal sogar, es war im Jahr 2007, konnten Karin Kaiser (Kommunikationsdesign, HTWG) und ich in einer kleinen Ausstellung im Turm zur Katz, der damals noch Bildungsturm hieß, den Prozess reversiblen Blackboxings nach Latour unmittelbar durch schwarze, mittels Schlitz einsehbare bzw. durch Türen betretbaren Kisten zur Raumgestaltung nutzen.
Räume sind keine neutralen Kisten
Drittens war Latours Denken – ergänzt durch einige andere, besonders Gell und Bateson (jaja, denken Sie an den Wasserkopf) – für mich eine Möglichkeit, den Seminarraum selbst, die Lehre als Akteursnetzwerk zu denken. Das hat zunächst dazu geführt, dass mir das Verhältnis von zu unterrichtendem Inhalt und der räumlichen Situation des Unterrichts immer fraglicher wurde, ich also merkte, wie stark das eine das andere beeinflusste. Ja, ich bin überzeugt davon, dass auch Räume dem Wissen Grenzen setzen (oder seine Genese beflügeln können). Sie sind keine neutralen Kisten, die man mit beliebigen Inhalten füllen kann. Also habe ich Möbel rausgeschmissen aus Seminarräumen, habe auf dem Fußboden oder an den Wänden mit Studierenden gearbeitet, bin mit Gruppen rausgegangen in die schöne Landschaft um die Konstanzer Uni herum, habe mich in Kneipen und Cafés getroffen oder gleich andere Räume für den Unterricht – die Sammlung von Hans-Dieter Schmidt etwa oder den Turm zur Katz oder auch die Probebühnen des Theaters – genutzt. Meine Erfahrung ist: allein die atmosphärische Differenz kann Gruppen inspirieren. Oder auch stören und nerven. Klar. Dann stellt sich halt die Frage: wie wende ich die Störung produktiv? Schwieriger erscheint es mir, wenn es gar keine Störung gibt.
Und so darf man auch das Gekraxele auf die luftigen Höhen der Erkenntnis genauso wie das Schlammtreten im fruchtbaren Bathos der Erfahrung durchaus als Irritation, Störung, als Sand im Getriebe – und zwar gerade in Projekten, die Theorie praktisch und Praxis theoretisch werden lässt – betrachten.
Anmerkung
[1] Wikipedia: Das Bathos steht im übertragenen Sinne für Niedrigkeit und Gesunkenheit. Der Begriff wird insbesondere in der Literaturwissenschaft verwendet. In der Literatur ist Bathos die Gegenüberstellung eines höheren Wertes und eines niedrigeren. Die Kontrastwirkung trägt zur freiwilligen oder unfreiwilligen Komik eines Textes oder einer Rede bei. Bathos kann somit als literarisches Stilmittel eingesetzt werden oder einem Autor unbeabsichtigt unterlaufen.
Beispiel: „Die Explosion zerstörte alle Häuser auf der anderen Straßenseite und meinen Briefkasten.“
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: A Wolpertinger, 1509, Autor Rainer Zenz, Wikipedia, this file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license; Robotervon Anja-#pray for ukraine# #helping hands# stop the war auf Pixabay