Hanno Loewy stellt das Erinnerungsprojekt „Über die Grenze“ vor
Auf Einladung der Initiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“ kommt anlässlich der diesjährigen Stolperstein-Verlegung der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems nach Konstanz. Er wird am Donnerstag, den 17. November, sein Projekt „Über die Grenze“ vorstellen, das vom Bodensee bis hinauf zur Silvretta auf einzigartige Weise über Flüchtlingsschicksale in der NS-Zeit informiert.
Ein hundert Kilometer langes Freiluft-Denkmal
Bereits gleich nach der Eröffnung am 3. Juli 2022 haben wir im Rahmen unserer Artikelserie „Ausflüge gegen das Vergessen“ über dieses neue, hundert Kilometer lange Freiluft-Denkmal berichtet. Weil es Beachtung weit über Vorarlberg hinaus verdient.
Manche erinnern sich: Vor zwei Jahren war erstmals seit 1945 die im Alltag nicht sichtbare grüne Grenze zwischen Österreich und der Schweiz coronabedingt hermetisch abgeriegelt und nur mit Sondergenehmigung zu überwinden. Zu diesem Zeitpunkt begannen Loewy und sein Team zusammen mit 22 Städten und Gemeinden in Vorarlberg, der Schweiz und Liechtenstein und vielen Projektpartnern den historischen Hör- und Schauweg „Über die Grenze“ zu entwickeln.
Dazu wurden entlang der Vorarlberger Radroute Nr. 1 von Lochau bis Partenen und an ausgewählten Orten in der Schweiz und in Liechtenstein symbolische Grenzsteine gesetzt, die jedoch nicht mit den Namen der angrenzenden Länder, sondern mit jenen von Menschen versehen sind, deren Schicksal sich an der jeweiligen Stelle entschied. Scannt man den auf der Oberseite des Steins eingelassenen QR-Code ein, erscheinen auf dem Display Fotos, Texte und kurze Hörstücke zum jeweiligen Stationendrama.
Dokumente und Zeitzeugenberichte zu den Dramen, die sich zwischen 1938 und 1945 entlang der Grenze zwischen Vorarlberg und der Schweiz abspielten und das Team des Jüdischen Museum Hohenems bereits seit Jahrzehnten sammelt, werden so einer viel breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
100 Kilometer – 52 Geschichten
Was politische GegnerInnen der Nazis, verfolgte Jüdinnen und Juden, Deserteure, Kriegsgefangene und Zwangs- und FremdarbeiterInnen aus besetzten Ländern Europas in Vorarlberg bei ihren Fluchtversuchen erlebten, als nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland 1938 die Schweiz für Jüdinnen und Juden und erklärte GegnerInnen des Nazi-Regimes das erste Fluchtziel war, kann nun radelnd erfahren – oder zuhause auf der Website des Projekts nachgelesen – werden.
Der Gedenkweg erzählt von Odysseen durch ganz Europa und von einheimischen Schmugglern, die zu Fluchthelfern werden; von Liebenden, die aus dem Gefängnis ausbrechen, und von Kriegsgefangenen, die sich verirren; von protestierenden Schülerinnen und Verhören durch die Gestapo, von gefährlichen Wegen über den Rhein und die Berge. Er erzählt von menschlichem Mut, Verfolgung, Behördenwillkür und Widerstand.
Und dass hier, direkt an der Grenze, vor achtzig Jahren Menschen um das nackte Überleben kämpften.
Als dem Jüdischen Museum Hohenems im vergangenen Monat der Österreichische Museumspreis 2022 verliehen wurde, brachte es der Schriftsteller Vladimir Vertlib in seiner Laudatio auf den Punkt: „Allein schon für dieses Projekt hätte das Jüdische Museum den Österreichischen Museumspreis verdient!“
Donnerstag, 17. November 2022, 19.30 Uhr, Seniorenzentrum Bildung + Kultur, Obere Laube 38, 78462 Konstanz; Eintritt frei
Sabine Bade
(Fotos mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Museums Hohenems)
Dr. Hanno Loewy, Literatur- und Filmwissenschaftler, Publizist und Ausstellungskurator, der in Konstanz promovierte, war 1995–2000 Gründungsdirektor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main. Nach dessen Anschluss an die Universität Frankfurt am Main wurde er Leiter der Abteilung für Erinnerungskultur und Rezeptionsforschung im selben Haus. Seit 2004 leitet er das Jüdische Museum Hohenems, das gerade zum zweiten Mal mit dem Österreichischen Museumspreis ausgezeichnet wurde.