Das Überlinger „Schmelzwasser“
Die Kleinstadt am See will nach dem verlorenen Krieg nur ihre Ruhe. Aber eine Buchhändlerin, eine Fremde, eine Zugezogene mit ihren MitstreiterInnen stemmt sich gegen die Starre, gegen die alten Nazis, die sich hinter einer neuen Ordnung verstecken. Kommenden Donnerstag liest Patrick Tschan (Bild) im Literaturhaus Thurgau aus seinem neuen Roman. Hier ein kleiner Vorgeschmack, der Lust auf mehr macht.
Was sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts als ein 1000-jähriger Eiszeitgletscher über ganz Europa ausbreitete, war nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 nicht einfach weg. Eine von einer Rasse getragene Maschinerie der Unterdrückung, Gewalt und institutioneller Vernichtung löscht sich nicht mit einem Wisch ins Nichts.
Hätten sich die Köpfe, die sich mit der Idee des Endsiegs, der Dominanz einer arischen Rasse, eines Großdeutschen Reiches imprägnierten, nur ein paar Mal schütteln müssen, um sich von verinnerlichten Denkmustern zu trennen?
Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ beschäftigt sich mit Schicksalen in den zwanzig Jahren nach dem Krieg. Mit dem langsamen Abtauen, dem stetigen Durchsickern jenes kontaminierten Schmelzwassers in einem Deutschland der Besiegten, der Verwundeten, der Abgesägten, der ewig Gestrigen. „Schmelzwasser“ ist die Geschichte einer Kleinstadt am Bodensee. Unverkennbar Überlingen, das nach dem Krieg in Schockstarre am liebsten in langes Vergessen versinken möchte, sich nur ja nicht konfrontieren will mit dem, was während Jahrzehnten der glorreiche Beginn einer tausendjährigen Ewigkeit hätte werden sollen.
Der eigentliche Protagonist in Patrick Tschans neuem Roman ist diese kleine Stadt, ein Städtchen, das exemplarisch für viele Städtchen steht, weit über die mGrenzen Deutschlands hinaus. Im Frühling 1947 steigt die Buchhändlerin Emilie Reber aus einem Linienschiff in der Kleinstadt am Bodensee. Voller Tatendrang eröffnet sie mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht in den Gassen der Altstadt eine Leihbücherei mit Antiquariat und Buchhandlung. Mit Büchern, die während der Nazizeit nicht gelesen werden durften, Bücher über die Nazizeit … Bücher, die helfen, zukünftig mit Rückgrat zu leben mit tausenden von Büchern aus der von Heinrich Mann in Paris gegründeten Freiheitsbibliothek. Emilie Reber, die in den Reihen der Résistance mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis kämpfte, hat ihre Waffe nach dem Untergang der Schreckensherrschaft noch längst nicht an den Nagel gehängt.
Nur die Waffe selbst ist eine andere geworden. Sie stellt sich dem modrigen Schmelzwasser, das alles durchdringt, das scheinbar friedliche und ruhige Städtchen am idyllischen Bodensee zu einem morastigen Sumpf werden lässt.
Kaum eröffnet, siegt die Neugier. Und natürlich sind die ersten die Schriftsteller, die in den Regalen nach ihren Büchern suchen, die meisten enttäuscht, weil ihre Bücher, geschrieben in der Zwischenkriegszeit oder im Schweif der Naziideologie, in der Auswahl Emilie Rebers ihren Platz in ihrer Buchhandlung nicht verdienen. Aber Neugier allein füllt die Buchhandlung nicht mit Kundschaft. Es harzt.
Man scheint keine Lust zu haben, sich mit den Auslagen der Buchhandlung provozieren zu lassen. Man will nach den Jahren des Krieges seine Ruhe. Es soll erst mal Gras über die Sache wachsen. Aber Emilie Reber will nicht. Sie findet Verbündete; Fräulein Ilse, die den frivolsten Friseursalon Süddeutschlands eröffnet, Hildegard Zahnlaub, die in ihrem Laden zuerst bloß unter dem Tisch Artikel aus dem Beate-Uhse Sortiment verkauft und echte amerikanische Jeans der Marke Levi.
Die Frauen treffen sich regelmäßig zu einer Flasche Chablis und besprechen ihre Strategien zur Unterspülung, jene der Aufklärung und Reflexion. Mitstreiter wird Ignaz Franck, ein Heimatloser, einer, der sich am liebsten in einer Ecke des Buchladens aufhält, weil dort alles ist, was man ihm genommen hatte. Und Ignaz Franck schreibt.
Obwohl dem Buchladen immer mehr Kundschaft die Treue erklärt, die Karteikartensammlung Emilie Rebers, auf der sie die Eigenschaften ihrer Kundschaft notiert immer umfangreicher wird, hat das Gespann arg zu kämpfen gegen all jene, die sich in ihrem Innersten nach der verlorenen braunen Ordnung zurücksehnen. Immer wieder kommt es zu offenen Bösartigkeiten, bis eines Nachts sogar ein Schuss fällt.
Aber Emilie Reber lässt sich nicht klein kriegen. Die, die Bücher liebt, liebt die Wahrheit, die Konfrontation, die Offenheit. Was in ihrem Buchladen beginnt, breitet sich immer mehr in den verkrusteten Strukturen eines verschüchterten, verwundeten, verstörten Nachkriegsstädtchens aus. Selbst die alten Nazis, die noch immer ihre Gefolgschaft zu mobilisieren verstehen, werden mit dem Geist einer „neuen deutschen Welle“ aus Literatur, Musik und Lifestyle aus ihren Löchern gespült.
Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ ist ein höchst unterhaltsames und gekonnt erzähltes Sittenbild mit cineastischer Wirkung. Was sich in dem kleinen Städtchen am Bodensee ereignete, ist stellvertretend für einen Kontinent, der aus der Starre erwacht.
Wann? 24.11, 19.30 Uhr
Wo? Literaturhaus Thurgau, Gottlieben
Anmeldung: https://literaturhausthurgau.ch
Text: Gallus Frei
Bild: Privat
Patrick Tschan – „Schmelzwasser“, Braumüller – 2022 – 336 Seiten, CHF 37.90 – ISBN 978-3-99200-330-3