Der Klimablog (98): Wer ist da kriminell?

Sie lassen einfach nicht locker: Bereits am Tag nach der großen Razzia gegen Mitglieder der Gruppe Letzte Generation haben sich Aktivist:innen in München nicht nur am Asphalt festgeklebt – sondern sich gleich mit Klebstoff übergossen (siehe Bild). Und auch ein Transparent mit angeheftet, das rätseln lässt: „Was wird [kommenden] Dienstag wohl passieren?“

Was am vergangenen Dienstag, also vorgestern, geschah, ist allgemein bekannt: Gleich in mehreren Bundesländern hatten Beamte die Wohnungen von elf Aktivist:innen der Letzten Generation durchsucht. Sie waren teils schon früh morgens um 5 Uhr aufgetaucht und hatten Laptops, Handys und Plakate  konfisziert. Zuständig für dieses völlig überzogene Vorgehen der Behörden war die Staatsanwaltschaft Neuruppin in Brandenburg, in deren Bereich die große  Erdölraffinerie PCK Schwedt liegt, die immer wieder von Mitgliedern der Gruppe besucht worden war – beispielsweise im Mai. Damals hatten Aktivist:innen das Notfallventil an einer Rohöl-Pipeline abgedreht, sich an Rohre gekettet und damit die Ölzufuhr blockiert (siehe Foto weiter unten).

Aber sind sie deshalb Teil einer „kriminellen Vereinigung“, wie die Ermittlungsbehörden glauben? Nach Ansicht so mancher Landesinnenminister:innen offenbar schon. Schon vor zwei Wochen hatten einige unionsgeführte Bundesländer eine Prüfung verlangt, ob es sich bei der Letzten Generation nicht insgesamt eine kriminelle Organisation handle. Liegt dieser Straftatbestand vor, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Nach der Razzia zeigte sich der frühere Black-Rock-Finanzmanager Friedrich Merz (CDU) zufrieden: „Hier muss der Rechtsstaat Zähne zeigen. Das tut er. Ich begrüße das ausdrücklich.“ Auch FDP-Politiker begrüßten das Vorgehen. Scharfe Kritik am behördlichen Vorgehen kam bisher nur von der Partei DieLinke.

Ein Statement und eine Einschätzung

Nach der Razzia veröffentlichte die Letzte Generation ein Statement, das hier auszugsweise wiedergegeben werden soll:

„Es ist sechs Uhr morgens und acht uniformierte Beamte laufen mit Taschenlampen ums Haus. Gleichzeitig brechen Beamte das Schloss der Wohnung einer alten Frau auf, die sich nicht traut, so früh morgens die Tür zu öffnen. Sie hat einen Herzschrittmacher. Ihr Sohn, der sonst bei ihr wohnt, sitzt derzeit im Gefängnis. In einer anderen Stadt klingelt es an der Tür, den Bewohnern dämmert es, sie hatten die gleiche Situation bereits vor zwei Wochen. Der Grund für die Hausdurchsuchungen: Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.“

Und weiter heißt es: „Während der Staat durch fehlenden Klimaschutz unser Grundgesetz missachtet, durchsucht die Polizei die Wohnungen jener, die alles friedlich Mögliche versuchen, dies offen zu legen.

Kriminelle Vereinigung: Das klingt ja so gefährlich. Aber was die eigentliche Gefahr ist, wird lieber unter den Tisch gekehrt: Dass wir in einer Klimakrise sind. Einer nie dagewesenen Krise, alles bedrohend, unser aller Leben gefährdend. Dass der Plan, den die Bundesregierung mit ihrem Klimapaket vorgelegt hat, vom höchsten Gericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Die Nachbesserungsfrist läuft ab, es ist nicht abzusehen, dass diese Regierung die Krise in den Griff bekommt. Und ja: Das ist Rechtsbruch. Das ist verfassungswidrig. Das ist kriminell.“

„Wir wussten, dass der Staat nicht einfach hinnehmen würde, dass wir sein Versagen jeden Tag an die Öffentlichkeit bringen. Seit einem Jahr sehen wir Einschüchterungsversuche, Versuche, unser Handeln zu unterbinden, Versuche, uns mundtot zu machen. Wir wurden beschimpft, verurteilt, ins Gefängnis gesperrt. Mit den Ermittlungen wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung erreicht dies ein neues Niveau.“

Deutschland, so das Statement „ist eine Demokratie. Voraussetzung für den demokratischen Prozess ist die Möglichkeit, sich frei und öffentlich zu versammeln, sich als Gruppe zusammenzuschließen und auch Widerstand zu leisten. Wenn dieses Prinzip Kriminalisierung erfährt, bedroht das die demokratischen Grundfesten.“

Weitreichende Konsequenzen

Und das werde man nicht hinnehmen: „Die Ermittlungen zur kriminellen Vereinigung,  öffnen den Behörden jedes Tor, uns zu überwachen und gerade diese Möglichkeiten sind meist das Ziel. Zur Anklage kommt es selten. Die Verurteilungsquote ist gering. Aber sollte sich ein Gericht dafür entscheiden, uns friedliche Menschen einzusperren, werden wir die Konsequenzen tragen. Wir stehen zu allem, was wir tun, mit unserem Namen und unserem Gesicht. Wir wissen, was wir tun. Wir wissen, warum. Aber ist es nicht absurd, dass hier gegen friedliche Menschen ermittelt wird, während die wahren Kriminellen sich Millionen Gewinne ausschütten und dieses Land in den Untergang schicken?

Und jetzt? Was denkt ihr, was jetzt passiert? Dass wir aufgeben? Dass wir ernsthaft in Erwägung ziehen aufzuhören?“

Es bleibt also bei den Protesten – trotz aller behördlichen Maßnahmen. Nach den Blockadeaktionen vor und auf den Berliner und Münchner Flughäfen hagelte es über 1500 Anzeigen und mehr als 700 Ermittlungsverfahren. Laut Medienberichten seien rund 350 mutmaßliche Blockierer:innen namentlich erfasst worden.

Dass es weitergeht, befürchtet auch die Stadtverwaltung von München: Sie erließ Ende letzter Woche eine „präventive Allgemeinverfügung“ gegen sogenannte Klebe-Versammlungen: Diese untersagt jeglichen Protest, bei dem sich Leute auf Straße fixieren. Dass diese Maßnahme erfreulicherweise wenig fruchtet, demonstrierten Klimaschützer:innen am gestrigen Mittwoch.

Ein paar Fakten

Aber wie gehen diese vor? Wie planen sie? Wie beurteilen sie die Resonanz? Dazu ein Beitrag von Eileen Blum, den die Aktivistin nach einer umstrittenen Autobahnblockade verfasste:

Viele von euch werden inzwischen mitbekommen haben, dass Ende Oktober eine arme Fahrradfahrerin von einem Betonmischer zerquetscht wurde. Der eigentliche Punkt des Anstoßes war jedoch nicht etwa, dass wir unsere Fahrradwege besser ausbauen und sicherer machen müssen  noch dass vielleicht mehr Vorsicht im Umgang mit großen Fahrzeugen angebracht wäre. Oder dass der Lkw-Fahrer bei dem Versuch, der Frau zu helfen, selbst angegriffen wurde und infolgedessen ins Krankenhaus musste.

Nein, der Punkt, an dem sich die Debatte höllenheiß entzündete, war die Tatsache, dass ein Rettungsfahrzeug, das in der Lage gewesen wäre, den Betonmischer von der Frau herunterzuhieven, ein paar Minuten verspätet zur Einsatzstelle kam und die Frau ohne es geborgen wurde. Wenig später erlag sie im Krankenhaus ihren Verletzungen.

Und wie schon die Glasscheiben bei der Gemäldeaktion, wurden die entscheidenden Details auch hier wieder einmal verschwiegen. Ob aus Unwissenheit oder Absicht, damit es eine bessere Story gibt – ich will mir nicht anmaßen, das zu beurteilen.

Fakt ist jedoch: Wir tragen keine Schuld am Tod der Radfahrerin.

Laut allgemeinem Framing seien Klimaaktivist:innen der Letzten Generation am Tod der 44-jährigen Radfahrerin schuldig. Dies entspricht jedoch selbst aus offizieller, faktenbasierter Sicht nicht der Wahrheit:

Die Notärztin hat bestätigt, dass sie das im Stau stehende Bergungsfahrzeug, auch wenn es pünktlich eingetroffen wäre, nicht für die Rettung eingesetzt hätte. Begründung: Aus medizinischer Sicht hätte das für die Verletzte keinen Vorteil gebracht. Eher im Gegenteil.

Auch mit entsprechendem Gerät ist es kein leichtes Unterfangen, ein Fahrzeug anzuheben. Wenn man es ordentlich machen will, dann dauert das – und damit Zeit, die diese Patientin vermutlich gar nicht mehr hatte.

Uns deswegen als „Mörder“ zu bezeichnen und gesellschaftlich ächten zu wollen halte ich nicht nur für grenzüberschreitend überzogen, sondern sogar gefährlich.

„Mit Vollgas drauf“

Dennoch häufen sich derzeit Aufforderungen zu mehr Gewalt gegen Mitglieder der Letzten Generation. Von anonymen Mails mit Morddrohungen und übelsten Beleidigungen, die täglich in unserem Mailpostfach landen, über Zeitungsartikel und Politiker:innen, die offen für härtere Strafen oder sogar ein Verbot der Letzten Generation plädieren, bis hin zu Leuten, die zu Gewalt gegen Aktivist:innen aufrufen, ist alles dabei. Der angebliche „Mord“ an der Radfahrerin rechtfertig scheinbar in den Augen einiger Aussagen wie „mit Mördern sollten wir keine gemeinsame Sache machen. Das nächste Mal, wenn ich solche Leute sehe, kann ich nicht garantieren, dass mir der Fuß auf dem Gaspedal nicht ausrutscht.“

Ein paar weitere geistreiche Perlen aus einer Kurzrecherche:
„Krankenwagen, Feuerwehr etc. wird aufgehalten. Es ist ihnen völlig egal, wenn jemand stirbt. Ich finde, es ist keine Übertreibung, wenn man diese Verrückten Terroristen nennt.“ – „Einfach räumen wie in Frankreich. Egal ob die Hände noch dran kleben, in 5 Minuten ist die Straße geräumt.“ – „Einfach ab und zack. Da würde ich sogar mithelfen. Und danach eine schöne lange Gefängnisstrafe …“ – „Die haben doch noch alle keinen einzigen Tag in ihrem Leben gearbeitet. Sieht man ihnen schon an, diesen hochnäsigen Gören. Einfach mal in der Fabrik zwangsverpflichten.“

Und während sich die Urheber:innen solcher Beiträge gegenseitig überbieten und auf die Schulter klopfen, bleiben die Leute, die durch ihr Handeln oder wahlweise auch Nicht-Handeln millionenfaches Leid verursachen, weitgehend unangetastet.

Keine Beiträge in der Tagesschau über das eklatante gesamtgesellschaftliche Versagen angesichts der größten Katastrophe seit Menschengedenken. Keine Welle der Empörung über den viel zu langsamen Ausbau von Fahrradstraßen und die schleppende Umsetzung von Maßnahmen zu mehr Verkehrssicherheit oder darüber, wie es sein kann, dass jedes Jahr acht Millionen Menschen an Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe sterben. Und niemand fordert mit derselben Vehemenz, die Verursacher all dessen zur Verantwortung zu ziehen.

Was konkret diesen Unfall betrifft:
Natürlich könnte man unabhängig davon, ob die Straßenblockade der Letzten Generation konkret für den Tod der Frau verantwortlich war oder nicht, anführen, dass es grundsätzlich ein Problem darstellen würde, wenn Aktivisten Straßen blockieren. Einfach weil es immer sein kann, dass in zukünftigen Staus Rettungskräfte behindert werden, die tatsächlich dringend nötig sind.

Aktionsgrundsätze

Aber grundsätzlich geht uns als Menschen der Letzten Generation darum, Leben zu schützen. Das ist unser oberstes Ziel und der eigentliche Grund, warum wir diese Proteste auf uns nehmen – selbst auf die Gefahr hin, dass durch Straßenblockaden Rettungskräfte beeinträchtigt werden können, wenn man es ungeschickt anstellt.

Dementsprechend greifen wir immer zu folgenden Vorsichtsmaßnahmen:

– Gleich zu Beginn einer Blockade wird die entsprechende Rettungsleitstelle darüber informiert, damit sie sich auf Staus in diesem Gebiet einstellen kann, es umfahren oder möglichst rechtzeitig auf sich aufmerksam macht.
– Wenn sich Leute auf die Straße kleben, werden alle Teilnehmer:innen ausdrücklich darauf hingewiesen, sich niemals in der Mitte zu fixieren, damit zur Not schnell eine Rettungsgasse freigemacht werden kann.
– Wenn es um Aktionen auf Schilderbrücken geht, ist die Polizei in aller Regel für die Sperrung der Straße und das Sichern der Rettungsgasse zuständig.
– Wir geben uns alle Mühe zu stören, weil wir keinen anderen Weg sehen, ausreichend auf das Thema aufmerksam zu machen, aber mindestens ebenso viel Mühe geben wir uns damit, dass möglichst niemand ernsthaft bei diesen Aktionen zu Schaden kommt.

Aber wenn Autofahrer:innen keine Rettungsgasse bilden oder gar versuchen, sich durch diese schnell vor dem Rettungswagen an der Straßenblockade vorbei zu mogeln, können wir nicht wirklich etwas dafür. Wir haben sogar schon versucht, mit Schildern „Rettungsgasse bilden!“ den Stau entlang zu laufen – in der Regel erfolglos, wenn nicht schon von Anfang eine Gasse gebildet wurde.

Noch mehr Fragen

Einmal ganz abgesehen von dem tatsächlichen Unfallhergang und wer jetzt schlussendlich Schuld am Tod der Frau ist, halte ich folgende Frage für gesellschaftlich deutlich relevanter:

– Warum empört sich alle Welt so über eine Handvoll Klimaaktivist:innen, statt sich die Frage zu stellen, wieso die Frau überhaupt von dem Betonmischer überfahren wurde?
– Brauchen solche Maschinen vielleicht größere Rückspiegel? Eine eingebaute Kamera?
– Müssen wir unsere Baustellen und Zufahrtswege besser sichern?
– Wann werden Kreuzungen und Straßen endlich so ausgebaut und umgewidmet, dass man auf ihnen gefahrlos radfahren kann? 2021 starb auf deutschen Straßen im Schnitt jeden Tag ein:e Radfahrer:in: 372 insgesamt.
– Warum ist das nur dann relevant, wenn Klimaaktivist:innen vermeintlich die Schuldigen sind? Wieso wird dieser Vorwurf oft von denselben Personen angeführt, die sich gegen jede Verbesserung der Radinfrastruktur sperren?
– Warum interessiert es nicht mit mindestens derselben Empörung, wenn Autofahrer:innen, wie so oft, keine Rettungsgassen bilden? Oder erst, wenn der Rettungswagen schon mit Blaulicht und Sirene direkt hinter ihnen steht?
– Warum regt sich niemand über Falschparker und Straßensperrungen durch Baustellen auf?

Aber es gibt auch eine andere social-media-Resonanz – nur dass es sich dieses Mal um tatsächlich sinnvolle Beiträge handelt und ich deutlich länger suchen musste, um sie zu finden: „Damals war ich mir unsicher, ob ich das für gut halte. Heute weiß ich, ich finde keine andere friedliche Alternative dazu, die gehört wird.“ – „Ich kann diese Form des Aktivismus absolut verstehen. Es geht um nicht weniger als das Überleben unseres Planeten. Das muss man erst einmal sacken lassen. Da nicht alles zu versuchen, halte ich für fahrlässig.“ – „Danke an die Aktivisten. Es wird höchste Zeit, dass die Medien wohlwollend berichten und die Politik damit richtig unter Druck setzen, damit sie endlich ernsthaft handeln.“ – „Ich finde es ja lustig, dass die CDU hier jetzt härter durchgreifen will, obwohl sie es war, die mit 16 Jahren Tatenlosigkeit diese Proteste überhaupt erst ausgelöst hat.“

Zu guter Letzt noch ein Nutzer namens Nicht-Chevy-Chase auf Twitter über die öffentlichen Reaktionen auf einen anderen Unfall ganz ähnlicher Art: „Weil Autofahrer auf der A9 keine Rettungsgasse bildeten, musste die Feuerwehr mehrere Kilometer laufen, um einen 19-Jährigen zu retten. Kein Aufschrei bei BILD, Stille bei der Union – und die Ampelpolitiker:innen, die hartes Durchgreifen forderten, schweigen. Es ging nie um Menschenleben.“ Kurzum: Keine Klimaaktivist:innen beteiligt, kein Aufruhr.

Text: Eileen Blum / pw
Bilder (oben einen Straßenaktion am 14. Dezember in München; unten Aktionen im Mai bei PCK-Pumpstationen): © Letzte Generation 


PS: Über ihr Vorgehen und ihre Pläne informieren Aktivist:innen der Letzten Generation auf einer Veranstaltung an diesem Freitag im Café Mondial. Beginn: 19.30 Uhr. Alle Interessierten sind willkommen!

Die Klimablogs werden von Aktivist:innen des bisherigen Konstanzer Klimacamps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Frühere Blogs dieser Reihe finden Sie, indem Sie ins Suchfeld das Stichwort „Klima Blog“ [mit Leerzeichen und ohne Bindestrich] eingeben und dann auf „Suchen“ klicken.