Zwischen allen Stühlen präsentiert „Freiräume des Lernens“
Im Rahmen der virtuellen Denkwerkstatt „Haste mal‘n MINT?“ entwickelten Studierende verschiedener Hochschulen Baden-Württembergs Ideen zur Verbesserung des MINT-Unterrichts. Studierende sind noch nah genug am Schulalltag dran und kennen andererseits bereits genau die Anforderungen, die an ein Studium der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und/oder Technik gestellt werden. Das im Folgenden vorgestellte Modell hat die Veranstalter:innen überzeugt.
Selbstbestimmung und Abwechslung als Parameter für einen modernen MINT-Unterricht
Wir sind vier Studierende naturwissenschaftlicher Disziplinen: Physik, Chemie, Kognitionswissenschaft und Geoökologie. Wir studieren an drei verschiedenen Hochschulen: dem Karlsruher Institut für Technologie, der Universität Konstanz und der Universität Tübingen. Auch wenn wir uns vorher noch nie gesehen haben, verbindet uns der Wunsch, den Unterricht naturwissenschaftlicher Fächer zu verändern, hoffentlich zu verbessern. Die Denkwerkstatt bot uns die Möglichkeit, ein Unterrichtsmodell zu entwickeln, das wir hier vorstellen möchten.
1. Problemanalyse
Ohne Naturwissenschaften, davon sind wir überzeugt, lässt sich die Welt nicht verstehen. Jugendliche, so meinen wir, sollten sich bereits in der Schule nicht nur mit Inhalten, sondern auch mit wissenschaftlichen Methoden auseinandersetzen, um später rational begründete Entscheidungen treffen zu können. In der Schule werden Naturwissenschaft und Technik jedoch häufig nicht so vermittelt, dass es Schüler:innen begeistert. Wir haben den Schulunterricht oft als trocken, manchmal langweilig erlebt. Das wird diesen spannenden Fächern nicht gerecht. Deshalb werden Naturwissenschaften für viele nicht zu Werkzeugen, die helfen, die Welt anders zu sehen und neu zu entdecken. Außerdem glauben wir, dass die Methodik naturwissenschaftlichen Schulunterrichts, wie wir ihn kennengelernt haben, keineswegs all diejenigen Schüler:innen erreicht, die über Begabungen in diesem Bereich verfügen. Wir sind überzeugt, dass hier wertvolles Potential verloren geht. Hinzu kommt, dass sich das Studium von MINT-Fächern fundamental vom MINT-Unterricht an Schulen unterscheidet. Es wäre wünschenswert, wenn dieser Bruch durch einen methodisch kontinuierlicheren Übergang von der einen in die andere Institution überwunden würde. Wir glauben, dass auch auf diese Weise auch potentiell MINT-interessierte Schüler:innen für ein entsprechendes Studium gewonnen werden könnten. In diesem Zusammenhang könnte auch das studierbare Spektrum der naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen vorgestellt werden.
Wir haben sechs Bereiche identifiziert, die Veränderungspotential für den schulischen MINT-Unterricht bieten.
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1.1 Interdisziplinarität. MINT-Fächer werden in der Regel isoliert voneinander unterrichtet. Das sind künstliche Trennungen – etwa die zwischen Biologie und Chemie oder die zwischen Physik und Technik- bzw. Werkunterricht. Wir glauben, dass Lehreinheiten, Projekte oder andere Formen des interdisziplinären Bezugs von MINT-Fächern untereinander ein erster wichtiger Schritt wären, das welterklärende Potential von MINT-Fächern für Schüler:innen verfügbar zu machen. So wichtig es aus methodischen Gründen ist, Fachgrenzen zu ziehen und einen innerfachlichen Diskurs zu führen, so entscheidend ist es doch immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Grenzen fließend, offen und hier und da durchaus künstlich sind. Das Getrennte muss also immer wieder zusammengeführt werden. Eine Möglichkeit bestünde etwa darin, dass man Lehrinhalte aufeinander bezieht, so dass Schüler:innen von Stunde zu Stunde erleben, wie ein Gegenstand aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann und muss, damit ein umfassendes Wissen über diesen Gegenstand entstehen kann. Eine Sonderrolle kommt in diesem Zusammenhang der Mathematik zu, da sie in Bezug auf Informatik, Naturwissenschaften und Technik die Funktion einer gemeinsamen, von allen verwendeten Sprache hat. Das bedeutet gerade auch für den Mathematikunterricht, dass dieser enger mit anderen Fächern verzahnt werden und möglichst nicht isoliert gelehrt werden sollte.
1.2. Experimente. Experimente sind das A und O aller Naturwissenschaft. Ohne Experimente könnte es keine moderne Naturwissenschaft geben, denn sie stellen das Bindeglied zwischen der Formulierung einer Vermutung oder These und der Welt, auf die sich die Sätze dieser These beziehen, dar. Experimentalaufbauten reduzieren die Welt so weit, dass sie beobachtbar und in all ihren Parametern kontrollierbar wird. Wer experimentieren lernt, lernt also das Herzstück naturwissenschaftlichen Arbeitens kennen. Allerdings gilt dieser Satz in erster Linie für selbstdurchgeführte Experimente. Bei Experimenten zuzugucken, erscheint weniger effektiv. Der große Pädagoge Jean Piaget hielt bereits fest, dass Erklärungen das Lernen unterbinden: „Wenn du einem Kind etwas beibringst, nimmst du ihm die Chance, es selbst zu entdecken.“ In unserem Zusammenhang bedeutet das: Experimente sind dann am eindrücklichsten und aus Sicht des Lernerfolgs am nachhaltigsten, wenn Schüler:innen sie selbst durchführen können. Der Anteil eigenständigen Experimentierens sollte deshalb im naturwissenschaftlichen Unterricht möglichst hoch sein.
1.3. Praxisbezug. Ein Vorwurf, der naturwissenschaftlich-technischen Fächern häufig gemacht wird, ist ihr fehlender Praxisbezug. Wozu soll es gut sein, diese oder jene Formel zu lernen? Warum muss ich physikalische oder chemische Gesetze kennen? Die oft beklagte Abstraktheit der Naturwissenschaften kommt meist daher, dass ihre Wissensgrundlagen nicht in lebensweltliche Zusammenhänge gebracht werden. Wenn ich Trigonometrie nur anhand von Aufgaben lerne, die losgelöst sind von der Welt, in der trigonometrisches Wissen angewandt werden könnte, bleibt es buchstäblich bedeutungslos. Mit Sinn und Bedeutung wird es erst aufgeladen, wenn ich die Sinnhaftigkeit in der Anwendung selbst erfahre – indem ich etwa real etwas vermesse und die Genauigkeit meiner Messung dann auch einen Effekt in der wirklichen Welt hat.
1.4. Heterogenität. Dass der Unterricht im Klassenverband sich nur an einem angenommenen Mittelwert orientieren kann und dabei viele Schüler:innen, die sich jenseits dieses Mittelwerts befinden, ausschließt oder zumindest nicht hinreichend einbindet, ist ein Problem, das in der Natur des typischen Frontalunterrichts liegt. Wir glauben, dass eine möglichst hohe Individualisierung des Lernens den Lernerfolg insbesondere in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern deutlich erhöhen und somit auch die innere Motivation, sich mit den Inhalten dieser Fächer aktiv auseinanderzusetzen, steigern kann.
1.5. Übergang ins Studium. Der bereits angesprochene Übergang von der Schule in die Hochschule bedarf trotz vielfältiger Angebote kontinuierlicher Weiterentwicklung. Er bietet aber auch vielfältige Chancen für beide Institutionen. Dabei geht es weniger um Werbemaßnahmen für MINT-Studiengänge als um inhaltliche Kooperationen.
1.6. Motivation. Nur, wer motiviert ist, lernt. Diese sehr einfache Formel stellt gleichzeitig die höchste Anforderung an die Didaktik, denn Motivation muss von innen kommen. Dort, wo Motivation ist, ereignet sich ganz selbstverständlich, was aufwändigste Projekte und Methoden nur unter allergrößten Anstrengungen bewerkstelligen. Motivation ist eher ein Feld des Überlassens als des Tuns; sie lässt sich genauso wenig herstellen wie Spontaneität, aber natürlich lassen sich gute Bedingungen zur Entfaltung von Motivation schaffen. Dazu gehören zentral das Erleben von Selbstwirksamkeit und Relevanz. Auch spielerische Ansätze können geeignet sein, Motivation zu fördern.
Die sechs Bereiche lassen sich auf zwei zentrale Handlungsfelder reduzieren:
– mehr Selbstbestimmung von Schüler:innen;
– größere Abwechslung im Unterricht.
Mehr Selbstbestimmung lässt sich durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Lerngeschwindigkeiten erreichen – Schüler:innen lernen in dem Tempo, das ihren Fähigkeiten und Interessen angemessen ist. Eine Wahlmöglichkeit zwischen den Fächern könnte ebenfalls zur Erfahrung von Selbstbestimmung beitragen – genauso wie die Möglichkeit zur Evaluation von Unterricht oder Mitgestaltungsangebote bei Unterrichtsformaten.
Projektarbeiten könnten helfen, mehr Abwechslung in den Unterricht zu bringen, wie überhaupt die Ausweitung von Lernorten. Außerschulische Lernorte sind attraktiv. Ebenso würde eine hohe Pluralität der Unterrichtsmedien Abwechslung stiften. Allerdings setzt Medienpluralität Medienkompetenz bei Lehrenden und Lernenden voraus.
Wir glauben, dass es Praktiken gibt, die zwischen Selbstbestimmung und Abwechslung vermitteln: dazu zählen wir die Möglichkeit, Wunschthemen von Schüler:innen in den Unterricht zu integrieren, sowie das Angebot, in Gruppen zu arbeiten.
2. Ein Lösungsmodell
Im Folgenden werden wir ein Modell beschreiben, wie der Unterricht von MINT-Fächern vorsichtig modernisiert und flexibilisiert werden könnte. Wir glauben, dass dieses Modell geeignet ist, die Attraktivität von MINT-Fächern zu erhöhen. In unserer Vision sieht MINT- Unterricht dann unter anderem so aus: Thea baut ihr selbst geplantes Experiment auf, sie möchte heute die Stärke ihres Hufeisenmagneten herausfinden. Unterdessen plant Emre mit Hilfe von Frau Salomon sein Experiment zur Lorentzkraft, das er der Klasse nächste Woche vorstellen möchte. Seine Projektpartnerin recherchiert gleichzeitig, welche Technologien mit diesem Wissen entwickelt werden konnten. Eric prüft in seiner freien Lernzeit die Wetterstation im Schulgarten, die er letzte Woche mit Ada aus der Abschlussklasse gebaut hat. Daneben, im Schatten eines Baumes, sitzt eine kleine Gruppe mit Herrn Noack, die gemeinsam noch einmal einige Grundlagen aus dem Unterricht wiederholt.
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Unser zentraler Ansatz ist die je hälftige Aufteilung des Unterrichts in selbstbestimmte und lehrpersonengeführte Formate. Zu mindestens 50 Prozent sollten Schüler:innen selbstorganisiert in der freien, selbstbestimmten Lernzeit arbeiten. Die übrigen maximal 50 Prozent werden durch eine Lehrperson gestaltet und werden im Folgenden als lehrpersonengeführter Unterricht angeführt. Grundbedingung eines solchen Ablaufs ist eine vorgehende Einigung auf die innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts – z.B. 4 Wochen – zu erreichenden Lernziele. Man müsste im Vorfeld ebenfalls bestimmen, welche Unterrichtsinhalte sich zum Selbstlernen eignen und welche innerhalb eines lehrpersongeführten Unterrichts erarbeitet werden müssen. An dieser Entscheidung werden Schüler:innen beteiligt. Die freie Lernzeit findet synchron in der ganzen Schule während der Schulzeit statt – gemeint ist also kein isoliertes Selbstlernen, wie etwa bei der Vertiefung und Verfestigung des in der Schule vorgestellten Stoffes in Form von Hausarbeiten. Vielmehr ist auch die selbstbestimmte Lernzeit begleitet: sowohl ältere Schüler:innen als auch Lehrkräfte und falls möglich MINT-Studierende sollten als Mentor:innen und Ansprechpersonen verfügbar sein. Für die beteiligten älteren Schüler:innen könnte die freiwillige Mentor:innentätigkeit selbst eine vertiefende Lernerfahrung sein: Es gibt kaum eine gründlichere Methode nachzuweisen, dass man einen Stoff verstanden hat, als die Situation, in der man ihn selbst anderen vermitteln muss. Eine große Bandbreite an Lehrmedien sollte für die frei lernenden Schüler:innen bereitgestellt werden, worunter explizit auch Mehrfachangebote – also derselbe Stoff in unterschiedlicher medialer Aufbereitung – verstanden wird. Damit soll sichergestellt sein, dass unterschiedliche Lerntypen je passende Zugänge zum Stoff finden und die zu Beginn gemeinsam gesetzten Lernziele erreichen können.
Nach vollständiger Erarbeitung der Lernziele haben die Schüler:innen die Möglichkeit, eigenständig MINT-bezogene Ideen zu verfolgen. Die einbezogenen MINT-Fächer und Formen dieser Projekte können dabei frei gewählt werden, so dass vom Planen eines Experiments über eine Recherchearbeit bis hin zu der Anfertigung eines Werkstücks alles realisiert werden kann. Diese Freiheit trägt dazu bei, die Eigeninitiative, Kreativität und Selbstorganisation der Schüler:innen zu fördern, wodurch wichtige Hilfsmittel für ein späteres Studium erlangt werden. Parallel sollten Theorien, Konzepte und Grundlagen in geführten Unterrichtsformen vertieft werden. Die selbstbestimmte Lernzeit und der lehrpersonengeführte Unterricht müssen in engen Wechselbeziehungen zueinander stehen. Nur so kann sichergestellt werden, dass das eigenständige Lernen zielorientiert bleibt und das fremdbestimmte Lernen die Motivation nicht untergräbt. Im Gegenteil: Beide Formen des Lernens und Lehrens sollten eng rückgekoppelt sein. Die Fortschritte in der selbstbestimmten eigenständigen Lernzeit festigen die Inhalte des lehrpersonengeführten Unterrichts, welcher zeitgleich das Selbstlernen anregt und mit Impulsen versieht.
Die Ergebnisse des Selbstlernens sollten nach Erreichen eines Abschnitts überprüft werden. Die gemeinsam zwischen Lehrkräften und Lernenden vereinbarten Lernziele können in einem benoteten Test abgefragt werden. Bei der hingegen unbenoteten Ergebnisvorstellung der darüber hinausgehenden Projekte sollten die Schüler:innen dazu ermutigt werden, selbständig eine Form zu wählen, in der sie ihre neu gewonnenen Erkenntnisse der Gruppe präsentieren. Während die benotete Ergebniskontrolle der Reflexion des eigenen Wissensstandes dient, soll das unbenotete Format den Austausch mit anderen Schüler:innen und ihren Projekten fördern.
Ein Lernabschnitt wird jeweils von einem kontinuierlichen Feedback zwischen Lernenden und Lehrenden begleitet. Zum Schluss findet eine ausführliche Evaluation der Lerneinheit statt.
Indem das Modell die beiden oben genannten zentralen Handlungsfelder aufgreift, die Selbstbestimmung der Schüler:innen zu fördern und Abwechslung in den Unterricht zu bringen, hoffen wir, dass MINT-Unterricht dadurch attraktiver wird, was den Ruf der MINT-Fächer nur verbessern kann.
Text und Schaubilder: Line Abele, Carla Behringer, Jana Knandel, Lukas Wursthorn, Symbolbild oben: Bild von Westfale auf Pixabay, Symbolbild weiter unten: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
@Franz Zeller Und was hat das jetzt mit mir und der von mir besprochenen Dimension zu tun? Was habe ich über andere Dimensionen geschrieben? Mir ging es um eine bestimmte Dimension, die Mathematik, ohne die Sie hier(!) niemals auf Marcuse und Wikipedia hätten verweisen können!
@Eckhard Grempels
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_eindimensionale_Mensch
Marcuse konstatiert sowohl in der Wissenschaft als auch im öffentlichen Diskurs ein „eindimensionales“ und „positives’“ bzw. „positivistisches“ Denken. Insbesondere die Wissenschaft flüchtete sich aus Furcht vor Werturteilen oder politischer Einmischung in die Empirie und in quantitatives Denken. Grundsätzliche, qualitative Reflexion der gesellschaftlichen Probleme und Aufgabenstellungen fänden in dieser technokratischen Herrschaftswissenschaft nicht statt.
Leider hat sich der Mathematikunterricht am Gymnasium durch die neoliberal-behavioristischen Reformen, Reformen, Reformen und noch mal Reformen und die Zwänge durch die Test- und Evaluationsindustrie weg von Bildung hin zur Ausbildung immer weiter von dem entfernt, was Mathematik auszeichnet aber auch „schwer“ und – sehr oft als unerwarteter Nebenaspekt – universell einsetzbar macht: Hohe Abstraktion. Mathematik ist also im Gegensatz zum Rechnen in erster Linie das Gegenteil von Anwendung. Wer Gymnasialschülern das Gegenteil vorgaukelt, nimmt ihnen die Möglichkeit, wenigstens einen Funken an Vorstellung davon zu bekommen, welches Abstraktionsvermögen ihnen im Mathematik- aber auch im Physikstudium abverlangt werden wird. Dass gerade in den MINT-Fächern die Abbrecherquoten so hoch sind und viele das falsche Studienfach wählen, liegt genau daran und an illusorischen Noten. Zumindest für das Gymnasium bedeutet dies: Die Liebe zur Mathematik zeigt sich nicht darin, dass man wissen will, wie man das Volumen eines kegelförmigen Behälters ausrechnet, sondern darin, dass man wissen will, wie die dazugehörige Formel abgeleitet wird.