Der Star ist eine Ziege
Victor Hugos „Der Glöckner von Notre-Dame“ feierte Premiere am Konstanzer Münsterplatz. Volle Ränge in einer schwülen Sommernacht, in der das mittelalterliche Freilicht-Spektakel die Besucher begeisterte und zu Beifallsstürmen hinriss. Eine grandiose Aufführung nach fast 100 Proben, in denen es die rund 120 Mitwirkenden geschafft haben, zu einer Einheit zu werden. Absolut sehenswert, was das Team um Theaterchef Christof Nix bot. Und noch den ganzen Juli über bieten wird.
Vor der Nordflanke des Münsters tobt das Paris des späten 15.Jahrhunderts. Bürgerinnen und Bürger, Gaukler, Joungleure und Feuerspucker, Bettlerinnen und Bettler mit Kindern, Prostituierte, Taschendiebe, dazu königliches Militär und ein Karren, auf dem Musiker über das Pflaster gezogen werden und das bunte Treiben rythmisch untermalen. Eine wunderbare Kulisse, ein starker Einstieg.
Quasimodo (Max Hemmersdorfer), der taube, verkrüppelte Glöckner von Notre-Dame de Paris mischt sich zum ersten Mal unter das großstädtische Treiben und verliebt sich in die Zigeunerin La Esmeralda (Jessica Rust). Sowohl Hemmersdorfer als auch Rust überzeugen in diesen tragenden Rollen bis zur letzten Sekunde. Äußerst beeindruckend aber auch die Ziege Djali, die bis zum bitteren Ende an der Seite von Esmaralda weilt. Was die Puppenspielerin Rahel Wohlgensinger hinter ihrem Ziegenkostüm leistet, ist nicht mehr zu toppen. Ganz große Kunst.
Erzdekan Claude Frollo (Thomas Fritz Jung) findet ebenfalls Gefallen an Esmeralda und meuchelt deren Liebhaber Hauptmann Phöbus (Georg Melich). Doch Esmeralda ist´s, die Zigeunerin, die man dafür als Hexe vor Gericht zerrt und zum Tode verurteilt. Aufgehetzt von der Büßernonne Gudule (Kristin Muthwil), die ständig aus ihrem Käfig heraus fordert: „Ins Feuer mit ihr! Zurück in die Hölle!“ Mit Magister Florian Barbedienne (Heimo Scheurer) als Hilfsrichter und Ankläger Jacques Charmolue (Odo Jergitsch) hätten die Henker im Namen des Königs kaum besser besetzt werden können.
Quasimodo und die versammelten Pariser Gaukler und Bettler wollen Esmeralda vor dem Henker retten. Der Glöckner von Notre Dame befreit Esmeralda und bringt sie zu sich in den Turm. Furios, wie diese Passage in den oberen Stockwerken des Münsters auch optisch umgesetzt wird. Das Ende in diesem Epos über Liebe, Leidenschaft und Verrat ist bekannt: Esmeralda baumelt an einem Strick und über ihr die fassungslose Gudule, der plötzlich klar wird, wessen Tod sie so vehement befürwortet hat. Der Dichter Pierre Gringoire (Philip Heimke), setzt den Schlusspunkt. In einer Pariser Leichenkammer habe man später zwei ineinander verschlungene Skelette gefunden. Das einer Frau und das eines Mannes mit einem Buckel.
Stehende, kaum enden wollende Ovationen für dieses grandiose Stück zu immer noch schweißtreibender Stunde. Schwerstarbeit für alle Beteiligten. Ihren Gesichtern war abzulesen, dass auch sie froh und glücklich waren über den nahezu reibungslosen Ablauf ihrer Aufführung.
Kleine Mäkelei am Rande: Die Kostüme sind überwiegend detailgetreu und passend zum Stück ausgesucht. Was aber gar nicht geht, ist das Schuhwerk mehrerer Kleindarsteller. Da waren einige Slipper aus dem 21.Jahrhundert zu entdecken. Auch Bettler trugen zu jener Zeit sicher keine Schuhe, bestenfalls Lumpen, meist aber wankten sie barfüssig durch die Pariser Gassen. Ebenfalls störend wirkten die neuzeitlichen T-Shirts der Musiker, von denen einer sogar eine getönte Sehhilfe auf der Nase hatte, die der Brillenkollektion von Elton John alle Ehre machen würde. Da besteht Korrekturbedarf. Ansonsten aber: Chapeau und herzlichen Dank für einen wunderbaren Abend.
Autor: H.Reile
Ein guter Kopf ist wichtiger als gute Schuhe.
Das haben Theater und Wahlkampf gemeinsam; auch wenn unser Stadttheater mir viel mehr Freude macht als das Wahlkampftheater.
Ich mag die kleinen Mäkeleien. Tatsache ist, dass wir kein Geld mehr für Schuhwerk hatten und die Darsteller ihre eigenen Schuhe benutzen, das ist manchmal jämmerlich. Richtige Theater haben einen Schuhmacher, die wurden aber neben den Soufleussen lange vor meiner Zeit eingespart. Ich hätte gerne so eine Stelle.
Das schöne an der Arbeit war, dass wir für einige Momente eine klassenlose Gesellschaft sind: Arbeitslose und Waldarbeiter, Lehrer und städtische Angestellte, Schüler, ein ehemaliger Richter vom Landgericht, Gauner und Rechtsanwältinnen, Mütter und Renterinnen, Junge und Alte – Brüder und Schwestern. Die Haltung macht es aus, der respekt vor der Geschichte der Gedemütigten, der Mühselig und Beladenen. Die alten Fragen.
Den „Glöckner von Notre Dame“ habe ich noch nicht gesehen, aber dafür „Welt 3.0 – Maschinerie Hilfe“ in der Spiegelhalle. Auch dieses Stück hätte eine enthusiastische Besprechung verdient. Es setzt sich auf bissig-kritische Weise sehr stimmig und überzeugend mit dem Thema Entwicklungshilfe auseinander. Tolle Inszenierung, hervorragendes Ensemble, hätte eine Verfilmung verdient (kann das mal jemand denen vom SWR sagen?). Leider wird es nur noch bis kommenden Samstag aufgeführt. Also: Hingehen!
Volle Zustimmung: tolle Inszenierung, tolle Schauspielerleistung. Und ein gutes Stück Gegen-Programm zum Konzilshype..
Ergänzung zu ‚Korrekturbedarf‘ wg. ‚Schuhwerk mehrerer Kleindarsteller‘ und outfit der Musiker:
Barfuß wäre natürlich voll authentisch gewesen – genau so wie echte mittalterliche Musikinstrumente, ein echtes Messer und echtes Blut. Aber ist es wirklich das, was eine Aufführung ‚authentisch‘ macht?