Zwischen allen Stühlen … Wurstpellen aus Menschenhaut
Am 25. Februar um 19 Uhr wird der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin, einer der schärfsten und profiliertesten Kritiker des Putin-Regimes, auf Einladung der Universität im Foyer der Spiegelhalle des Theaters Konstanz aus seiner mit dem Zeichner Ivan Razumov gemeinsam verfassten Mediensatire „Das weiße Quadrat“ lesen. Unser Autor hat schon einmal vorgelesen.
In einem Fernsehstudio nehmen vier Personen an einem quadratischen weißen Tisch Platz und werden von einem recht selbstzufriedenen Moderator nach ihrem Russlandbild gefragt. „Ein Lied“, antwortet die Verwaltungsangestellte Irina und beschwört das sentimentale Idyll eines großen Landes mit Stör, Katzen und Schnee herauf. Im Bild sehen wir rauchende Industrieanlagen, dargestellt in einer an Holzschnitte gemahnenden Ästhetik.
Eine monströse Laus
Der Regisseur Anton stellt sich Russland als schockgefrorene riesige Laus vor, die sich im zwanzigsten Jahrhundert fett gefressen habe und nun in eine Art Winterschlaf verfallen sei. Über eine Doppelseite lässt der Zeichner Ivan Razumov eine monströse Laus mit blutigem Maul laufen. Sie läuft, als sei sie einem Propagandaposter des Zweiten Weltkriegs entsprungen, über einen Globus, ihr Kopf und Vorderkörper definiert, der Hinterleib jedoch vage die Umrisse Russlands nachzeichnend.
Das ikonischste aller Bilder der modernen russischen Kunst
Vladimir Sorokin und Ivan Razumov haben sich bei der Gestaltung der Groteske „Das weiße Quadrat“ zusammengetan. Obwohl Sorokin als alleiniger Autor auf dem Titel erscheint – zumindest auf jenem der bibliophilen deutschen, die der Berliner ciconia ciconia Verlag, der sich ganz der Publikation postsowjetischer Literatur und Kunst widmet, herausgebracht hat, – ist es doch ein gemeinsames Werk, das man am ehesten als graphic novel bezeichnen könnte.
Die Bilder sind nicht illustrierend, sondern rahmen, kommentieren, interpretieren und konterkarieren den Text. Zusammen nehmen sie Bezug auf das ikonischste aller Bilder der modernen russischen Kunst: das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch, erstmals 1913 auf einem Bühnenvorhang und dann ab 1915 in mehreren Versionen in Öl auf Leinwand realisiert. Malewitsch malte nicht einfach eine quadratische Leinwand schwarz an, sondern malte ein schwarzes Quadrat auf eine weiße Leinwand in einer Technik, die das Brechen der Farboberfläche – das Entstehen sogenannter Craquelée – als geplantem Effekt entstehen ließ. Es ging darum, die Empfindung der Abwesenheit von etwas ins Bild zu bannen.
Ein längst nicht mehr vorhandener optischer Eindruck
Ein weißes Quadrat, das ist das Negativ eines schwarzen, des schwarzen Quadrats. Folglich könnte man es als Beschwörung der Anwesenheit von Nichts auffassen. Als entoptisches, im Augeninneren gelegenes Bild vielleicht auch, als Visualität eines längst nicht mehr vorhandenen optischen Eindrucks. In der Informationstheorie spricht man von weißem Rauschen, wenn man ein Störgeräusch meint, das sich aus allen hörbaren Frequenzen gleichmäßig zusammensetzt – metaphorisch könnte man sagen, es ist die Überlagerung aller Nachrichten, die zur absoluten Nicht-Nachricht führt.
Das weiße Quadrat, das Sorokin/Razumov zunächst im Sinn haben, ist der leuchtende, dunkel gerahmte Fernsehbildschirm. Er bildet die Projektionsfläche, um die sich die Gesellschaft der Graphic Novel versammelt und tritt deshalb in unterschiedlichen Variationen auf: als Tisch im Studio und als Tisch eines improvisierten Verkaufsstandes für Honig, als quadratische Pille einer psychoaktiven Droge wie als Fernsehbildschirm, der überall präsent ist: „Das weiße Quadrat des Bildschirms schimmerte auf“ (S. 147).
Alle Götter sind abhanden gekommen
Ist das schwarze Quadrat Malewitschs ein Bild der negativen Theologie, sind dem Flimmern des TVs längst alle Götter abhanden gekommen. Das Russland, das am quadratischen weißen Tisch aufscheint, kann alles sein, weil es ganz und gar gleichgültig und bedeutungslos geworden ist. Reine Oberfläche ohne die Anmaßung irgendeiner Tiefe.
Unter dem Einfluss einer WP-4 (oder auch RP-1) genannten, intravenös verabreichten Droge mit hoch enthemmender Wirkung gehen die Gäste der Talkshow auf den Moderator los, binden ihn auf das weiße Quadrat des Tisches, wo sie ihn häuten und anschließend die blutige Haut, die Oberfläche eines Körpers, dem man die Tiefe genommen hat, sorgsam auf die Tischfläche spannen – aus dem weißen ist ein rotes Quadrat geworden.
Deshalb kommt es auch zur Umbenennung der Droge: aus dem Weißen Pepper (Version 4) wird der Rote Pepper (Version 1). Im Nachgang zur Sendung stellt sich heraus, dass das zynische Produktionsteam ein ganz gezieltes Menschenexperiment durchführte – das Kippen der Abwesenheit von Sinn in Gewalt als Sinnsubstitut war gewollt und gewünscht. Experiment gelungen – man kann die Reste beseitigen.
Eine Rolle aus Haut
Sorgsam rollt man die Haut des Moderators zu einer Rolle, der Programmdirektor zwickt ihre Enden mit einer goldenen Krawattennadel zusammen zu einem Ring, den er dem Regisseur als Lorbeerkranz um den Hals hängt. Der zweite Teil des Textes Sorokins ist nicht mehr dialogisch wie ein Bühnentext aufgebrochen, sondern als durchgängige Erzählprosa geschrieben. Er behandelt das Schicksal des Hautrings, der nunmehr als Bild das weiße Quadrat ersetzt. Dort wo nichts war, ist jetzt immer noch nichts, aber es hat sich einen blutigen Rahmen gegeben. Und der kann wandern – schließlich in einen Suppentopf, aus dem er aber, im Moment eines absurden Re-entrys, wieder auftaucht. Während der Hautring nämlich als Kuttelsuppenzutat verspeist wird, schaut der Essende die Fernsehsendung „Das weiße Quadrat“.
Ist die Realität längst selbst fiktional geworden?
Der Text beginnt in Anführungszeichen vom neuen, um dann eine letzte Wendung zu nehmen, bei der man nicht so genau weiß, ob jetzt die Wanderungen des Hautrings wie die Fernsehshow Teil eines Films sein sollen oder ob die Realität längst selbst fiktional geworden ist: Kubricks Alex aus Clockwork Orange betritt die Bühne eines eingefrorenen Sets. Die Handlung des „Weißen Quadrats“ wird endgültig absurd. Dort, wo sonst das Politbüro der alten Sowjetunion – auch wir erinnern uns der Bilder – Armeeparaden abnahm, schauen jetzt Menschen mit Tierköpfen – Nashörnern, Hyänen und Krokodilen – auf eine Lagerparade aus Häftlingen und Wachtürmen. Einzig real scheint hier Alex zu sein, die Verkörperung exzessiver, rauschhaft genossener Gewalt an wehrlosen Opfern.
Das letzte Bild des Buches zeigt eine Elster, die den Hautring stibitzt hat, um ihn über die Dächer des Roten Platzes hinwegzutragen, gefolgt von Krähen und zwei kleinen weißen Friedenstäublein.
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Vladimir Sorokin: Das Weiße Quadrat, Berlin: ciconia ciconia 2018, 172 Seiten, ISBN 978-3945867174, 28,00 Euro.
Die Sorokin-Lesung findet im Rahmen des Let’s Ally-Festivals des Theaters Konstanz statt: 25.2., 19.00 Uhr, Spiegelhalle, Hafenstraße 12, 78462 Konstanz.
Text: Albert Kümmel-Schnur; bei den Bildern handelt es sich um Scans aus dem Buch „Das Weiße Quadrat“. Ihre Verwendung wurde uns von ihrem Schöpfer, Ivan Razumov, persönlich erlaubt.