Wo die Politik versagt, bleibt Hilfe überlebenswichtig
An Newroz, ihrem Neujahresfest, erinnern Kurd*innen überall an ihren langen Kampf für Freiheit. In diesem Jahr hatte das Gedenken allerdings eine bittere Note: Trotz der verheerenden Erdbeben gehen die Regimes in Ankara und Damaskus weiter gegen die kurdische Bevölkerung vor – auch gegen die im autonomen nordsyrischen Gebiet von Rojava. Umso wichtiger ist solidarische Unterstützung.
Am 21. März war Newroz, das Neujahrs- und Frühlingsfest, an dem die Kurd*innen ihren Widerstand feiern. Überall kamen daher Menschen zusammen, um ihren Willen zur Freiheit zu demonstrieren. In Istanbul und in der kurdischen Provinz Mêrdîn wurden dabei 250 Teilnehmer*innen festgenommen, wie die kurdische Nachrichtenagentur Ajansa Nûçeyan a Firatê (ANF) berichtete; viele von ihnen unter Einsatz von Gewalt. Grund dafür seien Parolen wie „es lebe der Widerstand in den Gefängnissen“ oder „es lebe Öcalan“ gewesen. Unter den Verhafteten waren auch viele Anwält:*innen, Kinder und Minderjährige. In der Türkei gibt es an diesen Tagen jedes Jahr Festnahmen.
In der nordsyrischen Region Efrîn tötete am Montagabend die dschihadistische Miliz „Ahrar al-Sharqiya“, welche dem türkischen Regime nahesteht, vier Mitglieder einer Familie, während sie Newroz feierten. Zwei Personen wurden schwer verletzt, woraufhin Massenproteste ausbrachen. Die Region Efrîn ist seit fünf Jahren vom türkischen Militär besetzt. Die Menschen protestierten die ganze Nacht vor dem türkischen Militärkrankenhaus und forderten die Herausgabe der Leichen und die Verhaftung der Verantwortlichen.
Auch in Deutschland versammelten sich in vielen Städten Menschen. In Saarbrücken forderten am Montag Demonstrant*innen die Aufhebung des Verbots der kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Auch anderswo kritisierten viele, dass die deutsche Politik auf der Seite des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan stehe. Dass weiter Waffen an die Türkei geliefert werden, der Verfassungsschutz Demonstrationen bespitzelt, die Einbürgerung verweigert oder das Aufenthaltsrecht nicht verlängert wird. All dies ist seit langem bekannt.
Zudem organisierte vergangene Woche die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ in Berlin eine Mahnwache im Gedenken an die Opfer vom 16. und 17. März 1988. Damals hatte das irakische Regime von Saddam Hussein in Helebce, in Irakisch-Kurdistan, Giftgas eingesetzt. Rund 5000 Menschen erstickten, Zehntausende wurden schwer verletzt. Viele Bewohner*innen leiden bis heute an den Folgen des Giftgaseinsatzes. Die Initiative #DefendKurdistan#WeSeeYourCrimes weist immer wieder auf die deutsche Verantwortung hin, denn auch deutsche Firmen profitierten davon.
Die Menschenrechtsverbrechen an der kurdischen Bevölkerung setzten sich danach und bis heute fort. Es gibt längst Belege über den türkischen Einsatz von Chemiewaffen 2018 und 2019 auf Rojava.
Erdbeben und fortgesetzte Angriffe
Zu den ohnehin schon großen Problemen kamen in jüngster Zeit noch die verheerenden Erdbeben, während denen die türkische Luftangriffe weiterhin Angriffe flog. Das berichtete Fee Baumann, eine Mitarbeiterin des Kurdischen Roten Halbmonds Heyva Sor a Kurd, in einem Interview mit dem ZDF. Die Region von Efrîn war zuvor schon Ziel türkischer Angriffe. Doch es geht weiter: Vergangenen Dienstag griff das türkische Militär die Guerillagebiete in Behdînan in der Zap-Region im Norden des Irak an. In dieser Region gebe es fast täglich Attacken. Nach den Erdbeben hatte die kurdische Seite zu einem Waffenstillstand aufgerufen, der von Erdoğans Regierung jedoch ignoriert wird.
Durch die Erdbeben in Syrien und der Türkei starben schätzungsweise über 50.000 Menschen; die Dunkelziffer ist hoch, die Zahl der Velrzten geht in die Hunterttausende. Nach Schätzungen der UNO sind mehrere Millionen Menschen obdachlos.
In den kurdisch bewohnten Gebieten ist die Situation fatal.
An der vor wenigen Tagen von der EU ausgerichteten Geberkonferenz beschloss die internationale Gemeinschaft, der Türkei und Syrien sieben Milliarden Euro Erdbebenhilfe zukommen zu lassen. Aber wie viel davon wird tatsächlich in die kurdisch bewohnten Gebiete ankommen? Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass solche Situationen politisch missbraucht und die Kurd*innen systematisch von der Hilfe ausgeschlossen werden – auf syrischer Seite vom Assad- und auf türkischer Seite vom Erdoğan-Regime. So beschlagnahmte beispielsweise das türkische Militär Hilfsgüter der kurdischen Partei HDP und vernichtete Medikamente.
Bisher haben die UN-Organisationen den Bedarf nicht einmal ansatzweise decken können, obwohl sie die umfangreichste Hilfe boten. Das berichtet ein Mitbegründer des zivilgesellschaftlichen Zentrums Hooz („Menschen“)aus der nordsyrischen Region Aʿzāz und al-Bāb in einem Interview mit medico International. Erste Hilfslieferungen kamen kaum oder viel zu spät an. Die meisten Lieferungen erreichten die kurdisch bewohnten Gebiete anfangs nicht: In den ersten Tagen nach den Beben gab es nur einen offenen Grenzübergang zwischen der Türkei und Rojava.
Und Assad machte es zur Bedingung, dass die Hilfslieferungen über die Hauptstadt Damaskus ins Land kommen. Ein Hilfskonvoi des Kurdischen Roten Halbmonds wurde daran gehindert, Güter in die Region von Aleppo zu transportieren. Zudem verlangte die syrische Armee – wie Medico berichtet – die Abgabe der Hälfte der Güter. Die Hilfe kam erst nach zehn Tagen und einer UN-Intervention beim syrischen Außenministerium ans Ziel.
Solidarität in Konstanz
In Konstanz organisierte das Bündnis „Solidarität mit Rojava“ bereits kurz nach dem Erdbeben einen Infoabend mit Maja Hess von der Hilfsorganisation medico international Schweiz. Und in der folgenden Woche einen Soliabend im Café Mondial mit Essen und Musik. Die Einnahmen gingen an medico Schweiz, die die Hilfe an ihre Partnerorganisation, den Kurdischen Roten Halbmond, weiterleitet.
Außerdem zeigte das Zebra Kino vor zwei Wochen (in Kooperation mit der Infokneipe und dem Rojava-Bündnis) den Film „The Other Side Of The River“. Der gut besuchte Film vermittelt einen Eindruck vom Alltag der kurdischen Freiheitskämpferinnen.
Das Solibündnis Rojava ist seit langem aktiv. Seit seiner Gründung 2018 hat es 20.000 Euro für den Kurdischen Roten Halbmond gesammelt. Damit konnten beispielsweise Beatmungsgeräte für die Region beschafft werden, die beim Kampf gegen das Corona-Virus einen unschätzbaren Beitrag leisteten, da Tausende an den Folgen einer Covid Infektion starben, weil die medizinische Ausstattung unzureichend war. Bis Juni 2022 war in Rojava nur jede*r Zehnte geimpft, wie ein Arzt von Heyva Sor a Kurd berichtete. Die Impfungen liefen damals über die Weltgesundheitsorganisation WHO, die nicht genügend Impfstoff für die Region zur Verfügung stellen konnte.
Weitere Hilfe ist notwendig
Die Bewohner*innen von Rojava sind müde. Sie haben zwölf Jahre Krieg hinter sich. Und jetzt kommt noch die Obdachlosigkeit dazu. Die Kurd*innen sind auf anhaltende Unterstützung angewiesen. Es gab in letzter Zeit wieder heftige Stürme, die den Menschen in den Zeltunterkünften neue Probleme bescherten. Eine langfristige Unterstützung ist überlebenswichtig, und die können regionale Hilfsorganisationen besser erbringen als ortsunkundige. medico International leistet durch die bewährte Kooperation mit dem gut vernetzten Heyva Sor a Kurd, dem Kurdischen Roten Halbmond, eine besonders wirksame Unterstützung – wie Maja Hess von medico Schweiz kürzlich in einem Interview mit seemoz ausführte.
Text: Vjollca Veliqi. Fotos: medico international
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Danke für die detaillierte und gut recherchierte Berichterstattung.