„Das Wesentliche geht oft vergessen“

Ist die Partei Die Linke tatsächlich so zerstritten, wie es vielfach heißt? Oder wird das nur in den Medien übertrieben dargestellt? Die Partei brauche es mehr denn je, sagt Sibylle Röth vom Kreisverband Konstanz im zweiten seemoz-Interview mit Linken-Politikerinnen – verbringe aber zu viel Zeit mit Pseudokonflikten.

seemoz: Was siehst Du derzeit als die wichtigste Aufgabe der Partei Die Linke an?

Sibylle Röth: Wir haben eine historisch hohe Inflation, gravierende Reallohnverluste und eine deutliche Umverteilung von unten nach oben. Wenn es die Linke jetzt nicht braucht, hat es sie nie gebraucht. Gleichzeitig können wir das nicht vermitteln.

seemoz: Warum gelingt es nicht?

Röth: Es wird der Eindruck vermittelt, wir seien zerstritten. Dabei finde ich die Beschlüsse und Positionierungen, die wir hervorbringen, großteils als eindeutig.

seemoz: Die sind uns, obwohl wir an linker Politik interessiert sind, nicht bekannt.

Röth: Der Vorwurf, wir vernachlässigten die soziale Frage und würden uns ausschließlich um Randthemen kümmern, stimmt einfach nicht. Die soziale Frage ist sehr zentral in unseren Themenfeldern – bei der Wohnungs-, der Gesundheits- und der Steuerpolitik. Aber wir verbringen selbst viel Zeit mit diesem Pseudokonflikt.

Zur Person: Sibylle Röth ist seit 2010 Mitglied der Partei Die Linke. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fachbereichs Geschichte und Soziologie der Uni Konstanz ist seit 2016 Sprecherin des Kreisverbands der Linken in Konstanz. 2019 wurde sie in den Kreistag gewählt, 2021 kandidierte sie für den Deutschen Bundestag.

seemoz: Welcher Pseudokonflikt?

Röth: Der Pseudokonflikt Klassenfrage versus neue marginalisierte Gruppenfragen. Da gibt es zahlreiche Überschneidungen: Arme Menschen sind auch von kultureller Marginalisierung betroffen und marginalisierte Gruppen leiden häufig auch unter sozio-ökonomischer Benachteiligung. Aber anstatt diese Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen, werden permanent vorgebliche Widersprüche betont. Die gibt es zwar durchaus auch, sind aber vielleicht eher eine Frage des Stils oder in akademischen Debatten von Interesse. Darüber wird das Wesentliche vergessen.

seemoz: Und das wäre?

Röth: Die Gemeinsamkeit auf einen Begriff zu bringen und dabei eine Koalition zu schmieden. Das berühmte Motto der Occupy-Bewegung „Wir sind die 99 Prozent!“ funktioniert nicht, weil die 99 Prozent nicht das Gefühl haben, eine Einheit zu sein. Das „Mosaik der Minderheiten“ fügt sich nicht zusammen. Und so stellen sie sich nicht gegen das oberste eine Prozent, sondern richten sich schlimmstenfalls gegeneinander.

seemoz: Siehst Du gravierende Bruchlinien innerhalb der Linken?

Röth: Auf der Ebene der Gesprächskultur sehe ich problematische Gegeneinanderstellungen. Oft läuft das aber auch so, dass alle betonen, Einigkeit und konstruktive Auseinandersetzung zu wollen und im selben Atemzug dem Gegenüber vorzuwerfen, das zu verhindern. Da das gegenüber das genauso sieht, kommt man nicht zusammen, sondern verstrickt sich in gegenseitige Vorwürfe. Die Probleme liegen dabei oft auf einer oberflächlichen Ebene und wenn man sich die Sachfragen anschauen würde, sähe es ganz anders aus.

seemoz: Wie könnten die Oberflächengefechte überwunden werden?

Röth: Wir müssen einen neuen Diskussionsstil finden – das weiß natürlich irgendwie auch jede:r.  Aber wir alle müssen einen neuen Diskussionsstil finden, nicht nur die jeweilig „anderen“. Und wir müssen näher an den sozialen Problemen diskutieren, um die es uns ja eigentlich allen geht. Wir brauchen mehr Sachdebatten, mehr  soziologische Analyse der Gesellschaftsstruktur, denn die zeigt ganz deutlich die Verbindungslinien und die gemeinsamen Anliegen.

seemoz: Auf lokaler und regionaler Ebene hast Du die Wohnungs-, Gesundheits- und Bildungspolitik als Schwerpunkte genannt. Was erwartest Du von der Bundespolitik der Linken?

Röth: Die großen Weichenstellungen müssen von oben kommen. Denn gegen das Bild, das aus Berlin vermittelt wird, kommt man hier vor Ort kaum an. Unsere Partei muss ihren Konsens in der Friedensfrage und ihren Schwerpunkt in der sozialen Frage deutlicher machen. Wenn diese Generallinien klar sind, kann man auf untergeordneter Ebene auch produktiv streiten, wie das am besten erreicht wird und welche Akzente man setzt. Das gehört ja schließlich zur innerparteilichen Pluralität. Aber die grundsätzliche Richtung muss eben klar sein. Ich denke – wie gesagt – das sie das eigentlich auch ist und wir inhaltlich ein solides Fundament haben.

seemoz: Aber es fehlt an aktiven Menschen.

Röth: Die momentan diskutierten Fragen haben einen hohen Emotionalisierungsgrad, der an die Substanz geht. Vor der Kriegsfrage kam das #metoo-Thema auf, ebenfalls ein hoch emotionales Thema. Bei solchen Problemen eine sachliche Distanz und eine abgeklärte Diskussion zu fordern, ist nicht einfach. Und natürlich muss Streit manchmal auch emotional sein. Aber man darf eben nicht dabei stehen bleiben, weil es nicht reicht herauszustellen, wie schlimm etwas ist, sondern weil Lösungen gefunden werden müssen, die funktionieren.

PS: Von Sibylle Röth erschien im vergangenen Jahr im Jacobin-Magazin ein Beitrag mit dem Titel Wie ein österreichischer Jakobiner den Kommunismus erfand.

Interview: Helmut Reinhardt und Vjollca Veliqi | Foto Sibylle Röth (privat)

Das erste Interview (mit Sahra Mirow vom Landesvorstand der Partei Die Linke) findet sich hier.