Warum nicht endlich flächendeckend Tempo 30?

Viele lärm- und abgasgeplagte Menschen vor allem entlang der Hauptstraßen träumen auch in Konstanz von Tempo 30 in der gesamten Stadt. Aber das ist nicht so einfach, denn dem sind enge rechtliche Grenzen gesetzt. Außerdem zeigt die Reaktion von Singener Autofahrer*innen, dass Tempo 30 zumindest bei Teilen der Bevölkerung auf heftige Ablehnung stößt.

Vor der letzten OB-Wahl fluchte ein FDP-naher Bekannter von mir, mit dem Linken Luigi Pantisano stehe ein Diktator reinster Denkungsart zur Wahl, und das sei eine große Bedrohung für unsere Demokratie. Als ich nach dem Grund für seine Meinung fragte, behauptete mein Bekannter: „Wenn diese rote Socke OB wird, führt er in Konstanz überall Tempo 30 ein. Das ist Diktatur.“ Nach seiner Meinung müsse man vielmehr alle Geschwindigkeitsbegrenzungen sofort abschaffen.

Freie Fahrt für freie Bürger

Ich fragte etwas verblüfft, ob er tatsächlich Tempo 100 in der Stadt erlauben wolle. Darauf kriegte ich den Vorwurf zu hören, ich unterstelle den Autofahrern per Generalverdacht, sie seien verantwortungslose Verkehrsteilnehmer. Heute versuchten die Autofahrer natürlich, die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu fahren, selbst wenn das gefährlich sei. In Wirklichkeit seien Autofahrer aber höchst verantwortungsbewusste Menschen. Wenn die Geschwindigkeitsbeschränkungen komplett abgeschafft würden, dann würden sie ihre Geschwindigkeit viel stärker dem Verkehrsgeschehen anpassen als heute und wo nötig sogar deutlich langsamer fahren als heute unter der Knute der Höchstgeschwindigkeit.

Abgesehen davon seien seiner Meinung nach nachts 80 km/h auf der Reichenaustraße kein Problem, weil dort um die Zeit eh nichts los sei. Auf meinen Einwand, dass dann aber die Anwohner durch den Autokrach am Schlafen gehindert würden, meinte er, wer lärmempfindlich sei, müsse eben in eine ruhige Wohnung im Musikerviertel ziehen oder sich Lärmschutzfenster einbauen.

Mensch merkt schnell: Auch bei Tempo 30 geht es (zumindest in Deutschland) um wesentlich mehr als Lärmschutz und Verkehrssicherheit.

Flächendeckend Tempo 30?

Aber wie ist das eigentlich: Dürften OB und Stadtrat in Konstanz flächendeckend Tempo 30 einführen, wenn sie denn überhaupt wollten?

Hierzu eine Erklärung der Stadt:

„Das Straßenverkehrsrecht des Bundes setzt Kommunen enge Grenzen, nach eigenem Ermessen Tempo-30-Zonen einzurichten. Hierfür muss es, so die Straßenverkehrsordnung, triftige Gründe geben – so zum Beispiel Aspekte der Verkehrssicherheit oder der Schutz von Anwohnern vor Lärm und Abgasen.

Wie viele andere Kommunen fordert auch Konstanz, Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit dort anzuordnen, wo die Stadt es für sinnvoll erachtet – auch für ganze Straßenzüge, auf Hauptverkehrsstraßen und ggf. auch stadtweit als Regelhöchstgeschwindigkeit.

Für Konstanz setzen aktuell das Vorbehaltsnetz und der Lärmaktionsplan den Rahmen für Tempo-Reduzierungen. So müssen Vorbehaltsstraßen – sie verbinden die Stadtteile und Gemeinden miteinander – als Grundgerüst des Straßennetzes Leistungsfähigkeit und Verkehrsfluss gewährleisten. Da gilt Tempo 50. Andererseits wurde im Konstanzer Lärmaktionsplan eine Systematik zur Lärmminderung an Hauptverkehrsstraßen festgelegt. An Schwerpunkten in Allmannsdorf, Wollmatingen, Petershausen und dem Altstadtring wurden daher Temporeduktionen umgesetzt.

Das Amt für Stadtplanung und Umweltschutz erarbeitet aktuell einen Entwurf für die Stufe 3 des Lärmaktionsplans. Beschließen zunächst der Technische und Umweltausschuss, dann der Gemeinderat insgesamt die Pläne, können sie im Anschluss sukzessive umgesetzt werden.“

Der Ruf nach dem Gesetzgeber

Mit anderen Worten: Die Stadt tut sich aus juristischen Gründen äußerst schwer damit, Tempo 30 außer an besonders lärm- oder unfallgefährdeten Stellen (Schulen, Krankenhäuser, Altenheime etc.) einzuführen. Viele deutsche Kommunen hoffen darauf, dass sich der Gesetzgeber ein Herz nimmt und die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) entsprechend ändert. Dort heißt es derzeit in §3, Abs. 3, Satz 1: „Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt auch unter günstigsten Umständen innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h.“1

Die Ausnahmen regelt §45: „(1c) Die Straßenverkehrsbehörden ordnen ferner innerhalb geschlossener Ortschaften, insbesondere in Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte sowie hohem Querungsbedarf, Tempo 30-Zonen im Einvernehmen mit der Gemeinde an. Die Zonen-Anordnung darf sich weder auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) noch auf weitere Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) erstrecken. Sie darf nur Straßen ohne Lichtzeichen geregelte Kreuzungen oder Einmündungen, Fahrstreifenbegrenzungen (Zeichen 295), Leitlinien (Zeichen 340) und benutzungspflichtige Radwege (Zeichen 237, 240, 241 oder Zeichen 295 in Verbindung mit Zeichen 237) umfassen. An Kreuzungen und Einmündungen innerhalb der Zone muss grundsätzlich die Vorfahrtregel nach § 8 Absatz 1 Satz 1 („rechts vor links“) gelten. Abweichend von Satz 3 bleiben vor dem 1. November 2000 angeordnete Tempo 30-Zonen mit Lichtzeichenanlagen zum Schutz der Fußgänger zulässig.“2

Alles klar? Eine Kommune hat diesbezüglich also nicht allzu viel zu sagen, und es wäre ja auch ziemlich dämlich, gölte in jeder Gemeinde eine andere Regel-Höchstgeschwindigkeit. Bleibt also nur zu hoffen, dass sich die Bundesregierung und das Parlament in Berlin zu einer Neureglung der StVO durchringen.

Aber da ist wohl der heilige Lindner vor.

Zorniges Murren in Singen

Die Stadt Singen hat vor einiger Zeit im Zuge des dortigen Lärmaktionsplanes einige Tempo-30-Zonen eingerichtet. Die erbosten Reaktionen auf Facebook in der Gruppe „Du bist aus Singen, wenn …“ kamen nicht unerwartet und sind herzerfrischend. Es steht zu vermuten, ist aber keineswegs sicher, dass sie die Meinung der Mehrheit der Autofahrer*innen wiedergeben – schließlich ist schon seit langem bekannt, dass sich an der Verkehrsberuhigung inner- wie außerorts des bleifüßigen Volkes höchster Zorn entzündet.

Hier einige Reaktionen [Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden durch die Redaktion im Sinne des Leseflusses den neuzeitlichen Gepflogenheiten behutsam angepasst]:

„Totaler Schwachsinn, was die machen, mit 30 sind die Autos lauter als mit 50. Im 3. Gang würgst du dir fast das Auto ab, und im 2. bist so laut wie noch was. Wann hört der Scheiß bald mal auf?“

„Dann hoff‘ ich, dass jeder im 2. Gang fährt und es doppelt so laut wird.“

„Ich warte nur noch darauf, dass in Singen auch noch der Klima-Notstand ausgerufen wird wie in Konstanz. Man muss Konstanz im allem nacheifern. Schleichtempo im Bereich von Schulen und Kindergärten macht Sinn. Der Rest ist sinnfrei. Hauptsache, unsere Wegelagerer vom Ordnungsamt bringen wieder mal mehr Geld in die Stadtkasse.“

„Die Lautstärke reduziert sich laut Studien minimal, dafür steigt die Abgasbelastung deutlich, denn die Fahrzeuge sind wesentlich länger in der Stadt unterwegs.“

„Gender-Müll.“

„Die Autos werden immer schneller und wir fahren immer langsamer!“

Dem Fazit eines dort Debattierenden lässt sich – angesichts dieser starken Zeilen im Geiste der Aufklärung – wohl kaum widersprechen: „Deutschland verblödet immer mehr!“

Anders gesagt: Wenn die Regierenden vom Bund bis in die Kommunen eine echte Verkehrswende wollten (woran heftigste Zweifel angebracht sind), müssten sie sich wohl ein neues Volk wählen. Andersherum gilt dasselbe: Wenn das Volk eine echte Verkehrswende will, muss es sich wohl eine andere Regierung wählen.

Text: Medienmitteilung der Stadt Konstanz, O. Pugliese, Symbolbild: O. Pugliese

Quellen:
1 https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/__3.html
2 https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/__45.html
Weiterführende Informationen gibt es hier bei der Deutschen Umwelthilfe.