Zwischen allen Stühlen … ein Preis aus einer anderen Welt
Olga Burenina-Petrova, die am Sprachlehrinstitut der Universität Konstanz unterrichtet, wurde in Genf die „Auszeichnung des Vaters des russischen Futurismus“ verliehen. Unsere Autorin ehrt die Preisträgerin, denkt über eine vergangene Welt, in der auch Russland ganz selbstverständlich Teil einer globalen multikulturellen Gemeinschaft war, und eine Stadt, in der diese Selbstverständlichkeit gelebt wurde, nach.
Am 22. Februar haben Olga Burenina-Petrova und Jean-Philippe Jaccard das Diplom „Die Auszeichnung des Vaters des russischen Futurismus“ bekommen. Im Jahr 2023 sind es zwei Preisträger, die an der Universität Genf geehrt wurden. In den Zeiten sich steigernder Konfrontationen, nicht nur auf dem Schlachtfeld, klingt die sich aus dieser Mitteilung herauslesende Multikulturalität optimistisch. Eine aus dem kasachischen Alma-Ata stammende Wissenschaftlerin, Olga Burenina-Petrova, die vor allem durch ihre Bücher „Das symbolistische Absurde und seine Tradition in der russischen Literatur und Kultur der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts“ (2005), „Zirkus im Kulturraum“ (2014) und „Anarchismus und die Kunst der Avantgarde“ (2022) bekannt ist, und der Schweizer Slawist Jean-Philippe Jaccard werden von dem im deutschen Halle lebenden russischen Poeten und Literaturwissenschaftler Sergej Birjukov mit einem Diplom des „Vaters des russischen Futurismus“ (russ. Otmetina otca russkogo futurizma) David Burljuk ausgezeichnet.
Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack
Als Nachkomme der ukrainischen Kosaken stammt der avantgardistische Künstler David Burljuk (1882-1967) aus dem Gebiet Charkow des damaligen russischen Imperiums (heute Ukraine). Er studierte in München bei dem Slowenen Anton Ažbe und dem Franzosen Fernand Cormon in Paris, bereiste Anfang 1920er Jahre Japan und lebte seit 1922 bis zu seinem Tod in den USA. Zusammen mit Vladimir Majakovskij und anderen Futuristen rief er im futuristischen Manifest „Die Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ (1912) dazu auf, „Puschkin, Dostoevskij, Tolstoj … vom Schiff der Gegenwart zu werfen“. Genauso wie für die italienischen Futuristen um Tommaso Marinetti wurde für die russischen die Vergangenheit zum „alten Kram“. Man suchte nach den neuen Wegen in der Kunst, die den radikalen Wandlungen des angehenden XX. Jahrhunderts entsprechen sollten.
Ein Mekka für russische Intellektuelle
Als Nachfolger der russischen Futuristen sieht sich Sergej Birjukov. 1990 hat Birjukov die Internationale Akademie der Transrationalsprache (russ. zaum‘) gegründet. Im Namen dieser Akademie verleiht er „Die Auszeichnung des Vaters des russischen Futurismus David Burljuk“. Die Ausgezeichneten werden zu den Mitgliedern der der Zaum‘-Akademie erklärt.
Unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit werden mit diesem Preis die Poeten gewürdigt, die die Traditionen des russischen Futurismus fortsetzen, sowie die Forscher, die die russische Avantgarde untersuchen. Neben zahlreichen aus Russland stammenden Poeten wie Andrej Voznesenskij oder Viktor Sosnora, Gennadij Aigi oder Ry Nikonova wurde dieser Preis auch an den aus Polen stammenden Essayisten und Übersetzer Adam Pomorski, den Kroaten Alexandar Flaker oder den Tschechen Tomáš Glanc verliehen.
2023 fand die Preisverleihung in Genf statt. Diese Stadt war schon immer ein Mekka für russische Intellektuelle. 1867 arbeitet hier Dostoevskij an seinem Roman „Idiot“; der Landschaftsmaler Aleksej Bogoljubov nimmt Stunden bei dem Schweizer Künstler Aleksandr Calame; Igor Stravinskij dirigiert hier das erste Mal ein Fragment aus seinem Ballett „Feuervogel“, das auch seine Freundschaft mit dem Choreografen Sergej Djagilev begründete; im Cafe „Landolt“ trinkt Lenin 1904 auf die „Ankunft des großen Sturmes“; eine der Genfer Straßen trägt den Namen des Literaturklassikers Leo Tolstoj, der sich 1857 in Genf vor dem Pariser „Schmutz“ rettet und Schwefelbäder einnimmt. „Petit Russie“ nennt man hier die Straße Rue de Carouge, weil sich hier seit dem 19 Jh. die russischen Studierenden ansiedeln.
Das Absurde als wichtiges Element der Avantgarde
Bis heute ist die Genfer Universität ein Zentrum des russischen Lebens der Stadt. Historiker Nicolas Werth, Spezialist für Geschichte der Sowjetunion, hielt hier am 30. März den öffentlichen Vortrag „Les famines soviétiques des années 1930“ (Der Hunger in der Sowjetunion in den 1930er Jahren); Als Teil des Programms von „Cercle russe“ fand am 22. März der Vortrag des Schriftsellers Sergej Lebedev (ins Deutsche übersetzt sind u.a. Romane „Der Himmel auf ihren Schultern“, 2013; „Menschen im August“, 2015; „Das perfekte Gift“, 2021) und genau einen Monat früher – die Lesung des Poeten Sergej Birjukov „Zum Visuellen und Klingenden in der russischen Poesie des XVII.–XXI. Jhs.“statt. Im Rahmen dieser Lesung wurde der Preis „Auszeichnung des Vaters des russischen Futurismus David Burljuk“ an die beiden Erforscher der russischen Avantgarde verliehen.
Das Absurde als wichtiger Bestandteil der Avantgarde zieht sich wie ein roter Faden durch die wissenschaftliche Laufbahn von Olga Burenina-Petrova: Ihre Habilitationsschrift ist der symbolistischen Absurdität und ihren Prägungen in der russischen Literatur und Kultur der ersten Hälfte des XX. Jhs. gewidmet; der Sammelband „Аbsurd i vokrug“ (Rund um das Absurde, 2004) ist von Olga ediert worden; in Zürich organisierte sie 2018 die internationale Konferenz „Das Absurde in Literatur, Kunst und Film“.
Eine schöpferische Motorik
„In der Literatur, in den Kulturen aller Zeiten gibt es etwas, was dem gesunden Menschenverstand widerspricht“, stellt Olga Burenina-Petrova in einem Interview fest. „Die Welt ist in der Krise, der erste Weltkrieg. Was passiert kurz davor und danach? Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus … Dadaisten meinten, dass die Grausamkeit des Krieges die Sinnlosigkeit des Lebens unterstreicht, sie haben auf die Norm verzichtet, mit Zynismus, Sinnlosigkeit, Chaos gespielt. Daraus folgt, dass eigentlich die Krise die absurdistischen Mechanismen in Gang setzt; sie ernährt sich von der Unvollständigkeit des Daseins und erweckt im Menschen neue Strategien“.
Das Absurde ist nichts anderes als Unsinn, aber gleichzeitig eine Art der Verfremdung, die innerhalb der Kultur stattfindet und einen Impuls dazu gibt, die automatisierten Traditionen, Gewohnheiten umzudenken. Zum einen ist das Absurde destruktiv, zum anderen aber kreativ, es hat eine schöpferische Motorik, rettende und wiederbelebende Energien.
Vielleicht wäre es gerade heute am Platz, die Werke der Absurdisten, wie etwa Daniil Charms‘, dem der andere Preisträger Jaccard sein opus magnum „Daniil Harms et la fin de l’avant-garde russe” (Daniil Charms und das Ende der russischen Avantgarde, 1991) gewidmet hat, neu zu entdeckten. Oder auch diejenigen Sergej Birjukovs, zum Beispiel aus seiner Reihe „(MO)MENTA(N)(L)E GEDICHTE“:
doktor faust verlässt das haus
gekleidet in einen schwarzen mantel
auf dem kopf ein zylinder
bis auf die augenbrauen gerückt
doktor faust bewegt sich entlang der straße
somnambul
ach ja!
der spazierstock
er skizziert etwas mit dem spazierstock
in der luft mechanisch
ihm entgegen mit der zigarre paffend
bewegt sich zielbewusst
doktor freud
(Übersetzt: Maxim Schuhmacher, publiziert mit freundlicher Genehmigung des Autors)
Text: Maria Zhukova
Bild: Es stammt von Ekaterina Velmezova. Es zeigt die Preisträgerin Olga Buernina-Petrova und den Preisträger Jean-Philippe Jaccard in Genf