Nostalgie mit Trauerrand?

Das nächste Philharmonische Konzert der Südwestdeutschen Philharmonie steht zwar unter dem Motto „Nostalgisch“, aber ein kleiner Streifzug durch die Musikgeschichte beweist, dass das zumindest auf die Musik von Brahms kaum zutrifft, dessen II. Sinfonie neben Dvořáks unverwüstlichem Cellokonzert auf dem Programm steht.

Triggerwarnung: Dieser Artikel tritt die journalistische Sorgfaltspflicht, die andere von uns vehement einfordern, mit Füßen und spuckt Lebenden wie Toten mit vollen Backen in die Suppe. Er enthält haufenweise frei erfundene Anekdoten, lockt Kinder und Jugendliche mit verschwiemelten Andeutungen sexueller Handlungen unter (igitt!) Männern. Und nicht zuletzt ist er, – und das ist im Zeitalter der schwindsüchtigen Tweets unentschuldbar –, auch noch ziemlich lang und enthält mehr als einen einzigen (selbstverständlich geklauten) Gedanken.

Brahms? Lieben Sie eigentlich Brahms?

Na klar, warum sollten Sie ihn nicht lieben? Er ist schließlich schon so lange tot, da können selbst Sie nichts mehr gegen ihn haben.

Umgekehrt ist das eine ganz andere Angelegenheit: Hätte Brahms Sie geliebt, wenn Sie sich zu seinen Lebzeiten (1833-1897) über den Weg gelaufen wären? Ziemlich sicher nicht, ganz im Gegenteil. Brahms hatte es nicht sonderlich mit Zufallsbekanntschaften, weder mit Tischdamen noch mit irgendwelchen Fans, das geht aus zeitgenössischen Berichten klar hervor (man denke nur an die Komponistin Ethel Smythe).

Er war oft gezwungen, seine Zuflucht zur Grobheit zu nehmen.

Einer, der ihm nicht persönlich begegnet ist, auch wenn er wie Brahms in Wien lebte, nämlich Arnold Schönberg (1874-1951), beschrieb ihn durchaus verständnisinnig so [leicht gekürzt]: „Es ist behauptet worden, daß Brahms‘ Umgangsformen oft von einer gewissen Trockenheit gekennzeichnet waren. Wien kannte seine Art, sich mit einem schützenden Wall von Grobheit zu umgeben als Verteidigung gegen eine gewisse Menschensorte, gegen die Aufdringlichkeit öligen Schwulstes, triefender Schmeichelei und honigsüßer Unverschämtheit. Es ist nicht unbekannt, daß jene lästigen Langeweiler, jene Sensationslüsternen, die hinter einer guten Anekdote herjagten, und jene taktlosen Eindringlinge in das Privatleben kaum mehr als Trockenheit erfuhren. Wenn die Schleusen der Beredsamkeit geöffnet waren und ihn die Flut zu verschlingen drohte, bildete Trockenheit keinen Schutz mehr. Deshalb war er oft gezwungen, seine Zuflucht zur Grobheit zu nehmen.“

Noch ernster als sein Umgang mit Menschen war allerdings Brahms‘ Einschätzung der Zukunft der Musik. Er, der von Beginn seiner Karriere an als Nachfolger Beethovens gefeiert oder als dessen Nachahmer verachtet worden war, spürte wohl, dass eine musikalische Epoche zu Ende ging. Die Särge der letzten echten klassisch-romantischen Komponisten (zu unterscheiden von deren Epigonen im 20. und 21. Jahrhundert) waren schon geschlossen oder klapperten (wie in Brahms‘ Fall) erwartungsvoll mit dem Deckel.

Doch wie weiter? Richard Specht überliefert in seiner Brahms-Biografie von 1928, Brahms sei in späteren Jahren sehr skeptisch gewesen, ob und wie die Musik weitergehen werde, und habe es abgelehnt, sich über die jungen Neuerer um Richard Strauss (1864-1949) zu äußern. Bei einem Spaziergang mit Gustav Mahler an einem Fluss sprach Brahms vom Ende der Musik. Da habe Mahler in den Fluss gezeigt und gerufen, „sehen Sie doch, Herr Doktor, sehen Sie doch!“ Brahms fragte, „was ist denn?“ „Sehen Sie doch, dort fließt die allerletzte Welle!“

Mahler sollte recht behalten, kaum mehr als ein Jahrzehnt nach Brahms‘ Tod kam das (scheinbare) Ende einer Epoche, die etwa von Haydn bis Brahms gereicht hatte. Schönberg erschloss mit seinen ersten freitonalen (als „atonal“ denunzierten) Werken der Musik gänzlich neue Welten.

Musiker einer Art unbefriedigter Frauen

Aber war die neue Musik des Schönberg-Kreises tatsächlich so neu, wie sie den meisten Zeitgenoss*innen erschien? Lange wurde Brahms als Konservativer gehandelt, der in den klassischen Formen verharrt habe, der lange Zeit lodernde Wagner-Verehrer Nietzsche sagte Brahms offen die „Melancholie des Unvermögens“ nach: „Rechnet man ab, was er nachmacht, was er grossen alten oder exotisch-modernen Stilformen entlehnt – er ist Meister in der Copie –, so bleibt als sein Eigenstes die Sehnsucht … Das erraten die Sehnsüchtigen, die Unbefriedigten aller Art. In Sonderheit ist er der Musiker einer Art unbefriedigter Frauen.“ Das war wohl kaum als Lob gemeint.

… ein großer Fortschrittler im Bereich der musikalischen Sprache

Schönberg, der Radikale, der Neuerer, hingegen sah Brahms anders als seine Zeitgenossen nicht gefangen in den Fußstapfen Beethovens, er hielt ihn nicht für den mehr oder weniger unoriginellen Fortsetzer einer jahrzehntealten Tradition. Er präsentierte 1933, in einem Vortrag zum 100. Geburtstag von Brahms, den er 1947, zu Brahms‘ 50. Todestag noch einmal umfassend überarbeitete, den „Altdeutschen“ Brahms vielmehr als innovativ. Er wollte beweisen, dass „Brahms, der Klassizist, der Akademische, ein großer Neuerer, ja, tatsächlich ein großer Fortschrittler im Bereich der musikalischen Sprache war.“

Auch Schönberg konnte nur deshalb so weit in die Zukunft voranschreiten, weil er auf den Schultern von Riesen wie Bach stand. Aber Schönberg geradezu als Brahms-Jünger oder gar indirekter -Schüler?

Noch vor einhundert Jahren rieb man sich verwundert die Augen, Wagner hatte doch in die Zukunft gewiesen und Brahms stur zurückgeschaut? Schönberg wies anhand zahlreicher Notenbeispiele nach, dass Brahms auch vor ungewöhnlichen harmonischen Kühnheiten nicht zurückgeschreckt war oder es etwa in seinem op. 79/2 vermieden habe, sich überhaupt auf eine Tonart festzulegen. Schluss war’s mit dem verfestigten Bild von Wagner, dem kühnen Revolutionär, und Brahms, dem verängstigten Konservativen – Schönberg wies nach, dass Brahms dem Wagner in nichts nachstand.

Fortschritt in Richtung auf eine uneingeschränkte musikalische Sprache

Schönberg, der seine eigene Radikalität auch aus der Verknappung seiner Musik auf das Allerwesentlichste schöpfte und die bisher üblichen Wiederholungen in seinen Werken tunlichst vermied, formulierte es sehr deutlich: „Es scheint mir, dass der Fortschritt, an dem Brahms arbeitete, die Komponisten hätte anregen sollen, Musik für Erwachsene zu schreiben. Es ist unbegreiflich, daß Komponisten als ‚ernste‘ Musik bezeichnen, was sie in veraltetem Stil mit einer Weitschweifigkeit schreiben, die dem Inhalt nicht angemessen ist – indem sie drei- bis siebenmal wiederholen, was man sofort versteht.“

Schönberg, der als Komponist seine Musik von den hergebrachten Schranken befreit hat, sieht einen „Fortschritt in Richtung auf eine uneingeschränkte musikalische Sprache. Er wurde eingeleitet von Brahms, dem Fortschrittlichen“.

Welch‘ Kompliment aus der Feder von Schönberg, des fortschrittlichsten Komponisten seit Beethoven!

Andere Menschen drückten ihre Zuneigung zur Musik von Brahms in deutlich weniger intellektuellen, dafür aber zu Herzen gehenden Worten aus. Der Theaterkritiker Julius Bauer (1853-1941) entblödete sich nicht, Brahms nach dem Anhören von dessen IV. Sinfonie folgende am 22. März 1893 gereimte Zeilen zu schicken (hier stark gekürzt):

Gedicht an Johannes Brahms

Geehrter Meister, ich neige das Haupt
Und küsse in Ehrfurcht die Diele!
Ich hörte am Sonntag zum ersten Mal
Die philharmonischen Spiele.

[Dort] nahm eine Symphonie von Brahms
Mir Herz und Sinn gefangen.

Das ist ein gedankentiefes Werk
Und gab mir Töne zu hören,
Die, wie die Frucht der guten Tat
Fortzeugend Gutes gebären.

Vor meiner Seele wuchs das Werk
In seiner klassischen Großheit;
In jedem Satz der Geist von Brahms
Und keine einzige Bosheit!

Ich sende Ihnen dieses Blatt
Mit dankbar-ergebenen Grüßen.
Weh mir, dass ich ein Laie bin,
Ich möchte Sie ganz genießen!

Solche Verehrer wünscht man ja selbst seinem ärgsten Feind nicht.

Weitere Informationen

Was: Auf dem Programm stehen das Konzert für Violoncello und Orchester h-Moll op. 104 von Antonín Dvořák und die Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 von Johannes Brahms (Brahms an seinen Verleger: „Die neue Symphonie ist so melancholisch, daß Sie es nicht aushalten. Ich noch nie so was Trauriges, Molliges geschrieben: die Partitur muss mit Trauerrand erscheinen“).

Wer: Zu Gast ist der Cellist Emanuel Graf (Foto), die Südwestdeutsche Philharmonie dirigiert Gabriel Venzago.

Wann, wo & wie:
Konstanz: Freitag, 21. April um 19.30 Uhr, Sonntag, 23. April um 18 Uhr und Mittwoch, 26. April um 19.30 Uhr im Konzil Konstanz. Karten für diese Konzerte sind beim Stadttheater Konstanz (07531 900-2150), bei der Südwestdeutschen Philharmonie (Mo-Fr 9.00 Uhr bis 12.30 Uhr) und bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof sowie in allen Ortsteilverwaltungen erhältlich. Tickets können auch im Internet gekauft werden, und zwar hier.

Singen: Samstag, 22. April um 20 Uhr in der Stadthalle. Weitere Informationen und Eintrittskarten gibt es hier.

Frauenfeld: Montag, 24. April um 19.30 im Casino statt, Karten für diese Konzerte gibt es hier: Pius Schäfler AG, Papeterie, Rheinstrasse 10, 052-7232900 und an der Abendkasse 30 Minuten vor Konzertbeginn, weitere Informationen gibt es hier.

Text: Harald Borges, Bild: Johannes Raab

Literatur

– Hellmut Federhofer, Johannes Brahms — Arnold Schönberg und der Fortschritt. Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich, herausgegeben von der Gesellschaft zur Herausgabe von Denkmälern der Tonkunst in Österreich, 34, 1983, 111–130, http://www.jstor.org/stable/41466969
– Arnold Schönberg, Brahms, der Fortschrittliche, in ders., Stil und Gedanke, Leipzig 1989, 99-145.
– Johannes Brahms, Das symphonische Werk. Entstehung, Deutung, Wirkung. Im Auftrag des Bayerischen Rundfunks herausgegeben von Renate Ulm, Kassel/Basel/London/New York/Praha, 22007.
– Julius Bauer, Gedicht an Johannes Brahms, in: Über Brahms. Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie, herausgegeben von Renate Hofmann und Kurt Hofmann, Stuttgart 1997, 181-183.