Zwischen allen Stühlen … Wie Bildung wirklich alle erreichen kann
Am 20. April stellte sich der MakerSpace des NwT-Bildungshauses im Kreismedienzentrum Göppingen öffentlich vor. Unser Autor hat an dem Tag der offenen Tür teilgenommen, Einblicke in Murmelbahnbau und Drohnenflug gewonnen und eine Tasse bedruckt. Am Folgetag sprach er mit dem Initiator des Bildungshauses, dem Ingenieur Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Coenning von der Hochschule Esslingen, über Bildung für alle.
Abends waren noch reichlich süße Teilchen übrig. Gebannt und begeistert waren etwa 20 Gäste aus Stadt und Landkreis Göppingen, der lokalen Arbeitsagentur, Schulen sowie das Team Transfer Lehre der Universität Konstanz durch die Räume des Kreismedienzentrums Göppingen gelaufen, hatten Einführungen in Projekte und Maschinen gelauscht und selbst Hand angelegt – hier ein Holzherz gefräst, dort eine Drohne gesteuert und da eine Tasse bedruckt. Für Backwaren blieb nur wenig Zeit. Für Gespräch und Austausch jedoch umso mehr. Der Tag der offenen Tür im MakerSpace Göppingen war ein voller Erfolg.
Unter einem Makerspace versteht man eine offene Werkstatt, die Zugang zu unterschiedlichen Werkzeugen und Maschinen bietet. Für gewöhnlich stehen dabei digitale Fertigungstechniken wie 3D-Drucker, Lasercutter, kleine Fräsen oder programmierbare Stickmaschinen im Zentrum. Makerspaces sind jedoch nicht auf digitale Technologien begrenzt, sondern können auch große Maschinen wie Kreissägen umfassen.
Der Göppinger Makerspace entstand vor einem Jahr aus der Kooperation zwischen dem Kreismedienzentrum, das in nach dem Abriss des alten Göppinger Klinikums übrig gebliebenen Räumen untergebracht wurde und deshalb über ein recht großzügiges Raumangebot verfügt, und dem Naturwissenschaften-und-Technik-, kurz: NwT-Bildungshaus, das über acht Jahre Knowhow in der Vermittlung von naturwissenschaftlich-technischem Wissen quer durch die gesamte Bildungskette, aber leider über keinen Raum mehr verfügte, seit sich die Hochschule Esslingen aus dem Projekt zurückgezogen hatte. So entstand eine Win-Win-Situation, und zwar auch deshalb, weil in den Räumlichkeiten des Kreismedienzentrums auch Vereine wie das lokale Radio Fips untergebracht sind.
… entlang der gesamten Bildungskette begeistern …
Wolfgang Coenning, der Initator des Bildungshauses, beschreibt die Grundidee so: „Als wir vor acht Jahren das NwT-Bildungshaus gegründet haben, ging es darum, entlang der gesamten Bildungskette für Technik und Naturwissenschaften zu begeistern. Wir haben gesehen, dass es neben dem üblichen Angebot – Sportvereine, Musikvereine etc. – im naturwissenschaftlich-technischen Bereich kein Angebot gibt. Die Kernidee war, zunächst einmal Kinder und Jugendliche für dieses Themengebiet zu begeistern, aber darüber hinaus auch die Multiplikatoren – Erzieherinnen, Erzieher, Lehrkräfte … Da hat man dann einen ganz anderen Wirkungsgrad, einen anderen Impact auf die Gesellschaft. Wir wissen ja aus dem Bildungssystem, dass die Ressourcen begrenzt sind, die Manpower begrenzt ist, weshalb man über das Fitmachen der Multiplikatoren mehr erreichen kann.“
Um Multiplikator*innen fit zu machen, braucht es jedoch wiederum Menschen, die als Multiplikator*innen der Multiplikator*innen arbeiten. Wie löst man dieses Problem in Göppingen?
„Das Thema ist ja, mit wenig finanziellen Ressourcen ein breites Angebot zu schaffen. Und da bietet es sich natürlich an, auf Personen, die in ihrer Ausbildung sind, zurückzugreifen, die Erfahrungen im praktischen Bereich erwerben müssen, um später zum Beispiel als Lehrkraft an der Schule einen besseren Stand zu haben. Während meiner Zeit als Studiendekan der Ingenieurspädagogik an der Hochschule Esslingen haben wir das Modul Service Learning integriert. In diesem Rahmen müssen die Studierenden eine Theorieveranstaltung (etwa: Wie gehe ich mit Kids und Jugendlichen, auch mit schwierigen Kids und Jugendlichen um) belegen, aber auch, und das ist der wichtigere Teil, 90 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Die angehenden wissenschaftlichen Lehrkräfte an beruflichen Schulen sollen dann z.B. zur Arbeiterwohlfahrt, zum Roten Kreuz, in ein Altersheim oder auch ins NwT-Bildungshaus, in den MakerSpace gehen und dort ehrenamtlich ihre Stunden ableisten. Das ist ein Riesengewinn für beide Seiten. Zum einen profitieren Kursteilnehmer natürlich vom Knowhow der Studierenden, zum anderen profitieren auch die Studierenden, wenn sie ihre Lern-Lehr-Konzepte anwenden und sehen können, ob sie funktionieren. Das schafft zusätzliche Sicherheit für die Zeit, in der Unterrichtsbesuche anstehen. Im Kleinen machen wir das auch im Gymnasialbereich. Es ist ja ein Privileg, in Deutschland umsonst und ohne irgendwelche Repressalien befürchten zu müssen, solche Ausbildungseinrichtungen besuchen zu können. Und dieses Privileg umzumünzen in einen Dienst an der Gesellschaft, das machen wir auch am Gymnasium, wenn etwa eine Siebt- oder Achtklässlerin in eine Grundschulklasse gesteckt wird, um mit den jüngeren Schüler*innen Experimente durchzuführen. Das ist genau die gleiche Win-Win-Situation wie im Studium.“
Ein Riesengewinn für beide Seiten
Verschiedene politische Stimmen fordern ja inzwischen soziale Pflichtjahre, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Dass das nicht einfach eine zukunftsweisende Idee, sondern auch eine politische Bankerotterklärung ist, steht bestenfalls im Kleingedruckten. Das Vorgehen, das Wolfgang Coenning beschreibt, macht soziales Engagement zu einem selbstverständlichen Teil der Ausbildung, der ja, gerade dort, wo sie akademisch ist, gern eine gewisse Weltferne nachgesagt wird.
Das Konzept Service Learning kommt aus den USA und orientiert sich an der Überzeugung des Philosophen John Dewey, dass jede Bildungsinstitution in sich eine Modelldemokratie sein sollte, in der über Handlungen statt über theoretische Konzept gelernt wird – learning by doing. Oder, in Deweys eigenen Worten, wohlgemerkt aus dem Jahr 1899: „When the school introduces and trains each child of society into membership within such a little community, saturating him with the spirit of service, and providing him with instruments of effective self-direction, we shall have the deepest and best guarantee of a larger society which is worthy, lovely and harmonious.”[1]
Es geht also um mehr als nur ums Basteln oder, gut schwäbisch, Tüfteln. Es geht auch um mehr als um MINT-Bildung – also Wissen in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Es geht, kleiner habe ich’s leider nicht, ums Ganze. Dieses Ganze muss aber, darin liegt die Pointe, durch das Nadelöhr des ganz Konkreten, Kleinteiligen oder, von mir aus auch, Lokalen gehen. Robert Musil formuliert in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“: „Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!“[2]
Mehr als nur Basteln oder, gut schwäbisch, Tüfteln
Bildungsinstitutionen sind, vielleicht überraschenderweise, für diesen Spagat eigentlich sehr gut gerüstet, da sie das konkrete Tun immer wieder rückbinden an eine allgemeine Reflexion getreu dem 1943 formulierten Motto des Experimentalpsychologen Kurt Lewin „There is nothing as practical as a good theory.“[3] Ein Satz, der natürlich nur dann Sinn macht, wenn man eben als Theoretiker nicht den griechischen Philosophen Thales, der sterneguckend in einen Brunnen fiel, sondern Kurt Lewin, der seine theoretischen Erkenntnisse experimentell erwarb, um sie dann wiederum – zum Beispiel beim Umgang mit Gangkonflikten – wieder in der Praxis einzusetzen. Und genau diesen Zirkel durchschreitet auch das Service Learning: eine theoretische Reflexion und ein praktisches Tun, das wiederum reflektiert wird.
Am Ende des Tages nehme ich mir noch eine Nussschnecke vom reich gedeckten Buffet, halte die bedruckte Tasse in der Hand und denke darüber nach, was ich von dem Tag in Göppingen mitnehme. Da ist einerseits das Miteinander ganz unterschiedlicher Institutionen und Einrichtungen. Da ist andererseits der verfügbare konkrete Raum, in dem sich Vertreterinnen und Vertreter von Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Vereinen treffen können. Auch gern und gewollt zufällig, mal eben über’n Gang, beim Kaffee oder auf dem Weg zur Toilette. Da ist schließlich aber als Bindeglied auch eine Freundschaft: ein Professor und ein Mediendidaktiker, die ihre Energie und Zeit einsetzen, um solche Projekte möglich zu machen. Die aristotelische Ethik geht davon aus, dass bedeutsame Werke immer der Freundschaft zur Durchsetzung bedürfen. Und nach langen Jahren der Durchführung, Beratung und Unterstützung von Projekten bin ich an dieser Stelle zum Aristoteliker geworden: ohne konkrete Personen und ihre ganz persönlichen Verbindungen werden die besten Ideen keinen Weg in die Wirklichkeit finden.
Text: Albert Kümmel-Schnur
Bilder: Wolfgang Coenning
[1] John Dewey: The School and Society. The Child and the Curriculum, University of Chicago Press 2013, S. 29. „Die tiefgreifendste und beste Garantie für eine würdige, liebenswerte und harmonische Zivilgesellschaft gibt uns eine Schule, die jedes einzelne Kind zum Mitglied einer kleinen Gemeinschaft macht, innerhalb derer es mit einem Geist der Gemeinwohlorientierung und Werkzeugen effektiver Selbstregulierung ausgestattet wird.“ (Übersetzungen AKS)
[2] Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 248.
[3] Kurt Lewin: „Psychology and the process of group living”, in: Journal of Social Psychology, 17 (1943), 118. „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.”