Nachruf auf Winfried Wolf: Zwischen Marx und Missionar

Winfried WolfDer Autor und Publizist Winfried Wolf, 74, ist tot. In der Nacht zum Dienstag ist er einem Krebsleiden erlegen. Mit ihm verliert nicht nur die Bewegung gegen Stuttgart 21 einen herausragenden Menschen. Auch wir von seemoz trauern um diesen bemerkenswerten Aktivisten, denn mehrmals hatten wir ihn nach Konstanz eingeladen, um u.a. über Stuttgart 21 zu referieren. Sein Tod ist ein großer Verlust.

Wer „Winnie“ zu Gast hatte, konnte sicher sein, dass er gut zu den Menschen und den Dingen war. Er kochte leidenschaftlich gern, mit Vorliebe italienisch (Strangolapreti), spülte ab, goss die Blumen, reparierte Fliegengitter und wacklige Tische, denen er stabile Füße in Form von hölzernen Schuhen zurecht sägte. Wenn er allein in einem Haus in Italien Urlaub machte, konnte er darüber auch ausführliche Bulletins verfassen, damit die Gastgeber:innen daheim Kenntnis davon erhielten, dass alles in Ordnung war. Seine letzte Dokumentation an den Autor dieser Zeilen, geschrieben am 28. August 2022, endete mit dem Hinweis, dass er in wenigen Tagen wieder eine Krebs-OP habe, danach radioaktiv strahle, „passend zur Verlängerung der AKW-Laufzeiten“. Er war damals 73.

Das Private war eben immer auch politisch, was wohl in seiner Grundannahme angelegt war, dass er zum Weltverbesserer geboren war. Irgendwas zwischen Marx und Missionar. Angefangen hat das in Oberschwaben, bei der Katholischen Jungmännergemeinschaft Weißenau/Ravensburg, weiter ging’s beim SDS in Freiburg, danach zur Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) in Berlin, bis zur PDS, für die er von 1994 bis 2002 im Bundestag saß, mit immer größerem Verdruss, weil er ihre „neoliberale Politik“ nicht länger ertragen mochte.

Der radikale Sozialist blieb seiner Linie treu

Er sei ein radikaler Sozialist und Utopist, sagte Winfried Wolf von sich selber, das passte nicht mehr zur dogmatischen Linken, aber auch in keinen bürgerlichen Karriereweg, wie ihn Altkader wie Winfried Kretschmann, Reinhard Bütikofer und Ralf Fücks beschritten hatten, ohne rot zu werden. 2006 war er raus aus der PDS, raus aus dem Risiko, korrumpiert, seiner Überzeugung untreu zu werden. Von da an war er „parteilos glücklich“.

Oft hatte er ein, zwei, viele Argumente auf seiner Seite.

Das Glück dürfte sich insbesondere auf seine Unabhängigkeit bezogen haben. Der in Horb geborene Schwabe konnte sagen, was er wollte, und hat das so reichlich genutzt, dass es schwerfällt, eine Liste der wichtigsten Texte aufzulegen. (Ein Text über seinen Vetter Guido, den glücklosen Ministerpräsidenten-Kandidaten und Tourismusminister, sei nur deshalb erwähnt, weil er auch die humorvolle Seite Winfried Wolfs zeigt.)

Fangen wir beim Auto an. Hier gibt es das Standardwerk „Eisenbahn und Autowahn“, erschienen 1986, das heute als Grundlage für die dringend notwendige Verkehrswende gelten könnte oder als Blaupause für den Befund von DB-Vorstand Berthold Huber, der jüngst seinen eigenen Laden als „zu voll, zu alt, zu kaputt“ kritisierte. Für den Linken Tom Adler war es eine Pflichtlektüre. Er hatte Wolf schon Ende der 70er-Jahre an seiner Seite, als er noch Betriebsrat bei Daimler war, quer zur IG Metall und gebrieft vom damaligen GIM-Star „Winnie“, der ihm später zum engen Freund werden sollte. Schuld daran war Stuttgart 21.

Der Stuttgart-21-Protest – nicht ohne Winfried Wolf

Im November 1995 war’s, als Wolf im Stuttgarter Clara-Zetkin-Haus auftauchte, zusammen mit dem linken Urgestein Gangolf Stocker, beseelt von dem Gedanken, das Jahrhundertprojekt, das damals noch eher vage in den Köpfen der schwarzen Politkamarilla herumspukte, frühzeitig zu bekämpfen. Das Buch trug den Titel „S 21 – Hauptbahnhof im Untergrund“ und sollte Moderator Stocker den Drive geben, zwei Wochen später die Initiative „Leben in Stuttgart – kein Stuttgart 21“ aus der Taufe zu heben. Wolf darf also getrost als einer der Väter jenes Protests betrachtet werden, der in die bundesdeutsche Geschichte eingegangen ist und bis heute nachwirkt. Auch dank ihm.

Keiner weiß das besser als Tom Adler, der Ex-Stadtrat der Linken und langjährige Mitorganisator der Montagsdemos gegen S 21. Bei ihm war Wolf zuhause, wenn er von Berlin anreiste, im Hotel nur, wenn er morgens um fünf auf den Bahnhof musste, um zur nächsten Veranstaltung zu fahren. Derzeit sind wir bei Nummer 660 der Montagsdemos und Wolf dürfte der auftrittstärkste Redner gewesen sein, aber auch einer derjenigen, der immer über den Kessel hinausgeschaut hat. Wahrscheinlich konnte er die Bilanz der Deutschen Bahn im Schlaf hersagen, so er ihn fand, konnte sie einordnen nach Punkt eins bis fünf, was er gerne an den Fingern abzählte, auf die im Privatisierungswahn untergegangene US-Eisenbahn verweisen. Aber das war ja nur ein Teil seines Portfolios.

Ohne den begnadeten Netzwerker wäre die Skulptur des mit dem ICE ringenden Kretschmanns von Peter Lenk nie entstanden, der in der Landeshauptstadt nicht stehen bleiben durfte. Der Film „Das trojanische Pferd“ von Klaus Gietinger wäre nicht gedreht worden, in dem endlich mal ein Bahnchef (Heinz Dürr) zugab, dass S 21 schon immer ein Immobilienprojekt war. Und den Kontext-Leser:innen hätte ein Autor gefehlt, der zu den kundigsten Verkehrsexperten der Republik zählte. Selbst der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann, bei Gott kein Freund des Namensvetters mit der „Tendenz zur Rechthaberei“, lobt ihn jetzt gegenüber Kontext als „profunden Kenner“ der Bahn, von Hintergründen und Lobbyverstrickungen, der etwas geschafft habe, was heute im Journalismus nicht mehr die Regel sei: „tief und penetrant“ zu recherchieren. Womöglich hätten sich die beiden noch angefreundet, wenn der Wahl-Berliner nach Stuttgart gezogen wäre, wie er es vorhatte, wenn seine Tochter ihr Abi in der Tasche gehabt hätte.

Gestorben im Arm von Volker Lösch

Wie er das Pensum geschafft hat, bleibt des Workaholics Geheimnis. Hat man ihn gefragt, wusste er darauf auch keine Antwort. Es musste einfach sein. Unzählige Bücher, beileibe nicht nur über die Bahn. Über Griechenland im Würgegriff der EU, über das Armenhaus Haiti, über Corona, Krise und Kapital, über Umwelt und Klima. Vorträge landauf landab. Seinen Blog bediente er noch bis zum 8. Mai 2023. Unter anderem mit einer königskritischen Betrachtung von Charles III.

Er war Chefredakteur der linken Wirtschaftszeitschrift „Lunapark 21“, Sprecher der Initiative „Bürgerbahn statt Börsenbahn“, Herausgeber von spontanen Zeitungen wie gegen den Krieg in der Ukraine. Und das kann nicht ewig gut gehen, birgt das Risiko, Dinge falsch zu beurteilen, wie im Falle Putins, dem er diesen Krieg nicht zugetraut hätte – und dies später als Fehleinschätzung öffentlich bekannt hat.

Sein Freund Tom sagt, „Winnie“ sei „extrem auf Verschleiß“ gefahren, eine Kerze gewesen, die an beiden Seiten brannte. Das erinnere ihn an Rosa Luxemburg. Noch im Dezember vergangenen Jahres, bereits schwer krebskrank, habe Wolf im Südtiroler Bad Dreikirchen einen Gasthof gebucht, um mit ihnen jetzt im Mai seine politischen Projekte zu besprechen, ein paar Tage gemeinsam mit ihnen zu verbringen. Auch wenn es seine letzten sein sollten oder gerade deshalb. Hier hat er „Eisenbahn und Autowahn“ geschrieben. Vor 37 Jahren. Hier hat er immer wieder Kraft geschöpft. Er konnte nicht mehr kommen. Seine Freund:innen sind dort, ihre Trauer ist groß (als PDF-Download).

Regisseur Volker Lösch, auch ein Weggefährte aus S-21-Zeiten, hat ihn die letzten Tage am Sterbebett begleitet. Ganz am Ende, in der Nacht zum Dienstag, 23. Mai, hat er ihm lange den Kopf gehalten, bis das Herz aufgehört hat zu schlagen. Er habe das Gefühl gehabt, schreibt Lösch, dass der Freund „gut irgendwo hingekommen ist“.

Manchmal denken wir, es wäre besser gewesen, wenn „Winnie“ nicht nur auf die anderen Menschen und die Dinge aufgepasst hätte, sondern auch auf sich selbst.

Text: Josef-Otto Freudenreich. Sein Nachruf erschien zuerst auf: www.kontextwochenzeitung.de
Bild: Joachim E. Röttgers