Lebensgeschichten (2): Vom Verstehen ohne zu vergessen

Müssen wir vergessen, um zu verstehen? Rena Meier zeigt, dass es sich leben lässt mit der Dissonanz zwischen den Welten. Auch wenn das Leben in ihrer Heimat anders läuft, als sie es gern hätte, hat sie Verständnis für die Menschen dort. Sie sei ja schließlich „selbst nicht anders“ und selbst nur ein Mensch.

In der Grundschulzeit sei sie eher eine „mobbende Person“ gewesen, erzählt sie mir gleich zu Anfang. Einer ihrer Mitschüler habe sich besonders eindrucksvoll aufgeregt, wenn er geärgert worden sei. Dies hat dem Jungen wohl das Schicksal eines Mobbingopfers eingebracht. „Als Kind ist man immer Arschloch!“, kommentiert Rena trocken. Später hat sie sich lieber mit den weniger beliebten Schüler*innen in ihrer Klasse angefreundet. Aber warum diese Veränderung? Ihr bester Freund ist weggezogen und der Kontakt ist abgebrochen. Ohne diesen Rückhalt sei sie erstmal ziemlich eingeschüchtert gewesen.

„Als Kind ist man immer Arschloch!“

Weltoffenheit gehörte in ihrer Geburtsstadt auch nicht gerade zu den heiß diskutierten Themen. Rechte Parolen, die berühmt-berüchtigten Montagsdemonstrationen und, wie Rena es formuliert, „latent bis offen“ geäußerter Hass gegen Andersdenkende seien in der sächsischen Kleinstadt keine Seltenheit gewesen. Die Bürger*innen hatten sich daran gewöhnt. Kaum jemand regte sich darüber auf, und wenn, dann sicher nicht in aller Öffentlichkeit. Das könne auch schnell gefährlich werden, gibt Rena zu bedenken. Sie lässt nervös einen Bändel ihres Kapuzenpullovers um ihre Finger gleiten.

Nach dem Verlust ihres Grundschulfreundes blieb Rena eine introvertierte Schülerin. Leistungstechnisch im Mittelfeld, beliebtheitstechnisch mit allen kompatibel, aber nur mit wenigen eng befreundet. Da sie drei Schwestern hatte, habe sie schon als Kleinkind nie wirklich eine Notwendigkeit darin gesehen, weitere Spielgefährt*innen aufzutun, erklärt sie.

Sie wuchs nach ihren Worten in einer glücklichen Familie auf, nicht besonders reich, eher konservativ. Und doch hat es ihr nie an etwas gefehlt. „Vati“ war der Hauptverdiener. „Mutti“ hatte in der DDR den Beruf der Kindergärtnerin studiert. Die BRD erkannte diese Ausbildung jedoch nicht an. Sie arbeitete daraufhin im kaufmännischen Bereich, konnte aber nach der Wende und der damit verbundenen beruflichen Umorientierung in diesem Berufsfeld nie so richtig Fuß fassen. Viel selber machen und dieses Selbermachen am besten auch noch selbst finanzieren, das stand für Rena von frühster Kindheit an ganz oben auf der Agenda. Sie hat gelernt, sich selbst helfen zu können. Und das hilft ihr bis heute.

Wie es nach der Schule weiterging

Mit dem Abitur in der Tasche hatte Rena keine Ahnung, in welche Richtung es jetzt weitergehen könnte. Ihre Familie hatte ihr ja doch eher die Erwartungshaltung vorgelebt, dass Lücken im Lebenslauf ein größeres Vergehen seien. Dass eine Richtung einzuschlagen und, am besten auch stets im gleichen Job, strikt beizubehalten, die eindeutig bessere Lösung sei. Da sie schon immer ein bücherliebendes Kind gewesen war, wurde ihr also vorgeschlagen, sie könne doch zukünftig in der Bibliothek arbeiten. Rena war sich da nicht so sicher. Trotzdem begann sie vorsichtshalber ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der örtlichen Stadtbibliothek.

Hin und wieder gab es gemeinsame Kurse der FSJler*innen. Dort vermittelte ihr ein Dozent, dass es in Ordnung sei, sich beruflich auszuprobieren. Sollte der eingeschlagene Weg nicht der richtige sein, könne sie sich ja immer noch umentscheiden. „Das fand ich furchtbar befreiend.“ Die Erleichterung darüber ist ihr heute noch anzumerken.

Schließlich ist es doch die Bibliothek geworden. Rena hat inzwischen nicht nur ihren Arbeitsplatz an diesem Ort, sie hat das Ganze auch noch studiert. Auf diese Weise landete sie in einer WG in der nächsten Großstadt. Mit der neuen Tätigkeit, dem anderen Wohnumfeld und allem voran der erstmal noch völlig undefinierten Rolle innerhalb des noch zu gewinnenden Freund*innenkreises, wandelte sich auch eben dieser. Sie sei auch offener geworden, mache sich heute nicht mehr so viele Gedanken darüber, was andere über sie dächten. Denn eines will und wollte sie nie sein: Ein „people pleaser“.

„Ich bin ja selbst nicht anders“

In ihrer Heimat hatte sie irgendwann das Gefühl gehabt, in ihrer Rolle als introvertiertes, unauffälliges Mädchen festzustecken. Die eigene gesellschaftliche Rolle zu überwinden, könne halt auch einfach ätzend sein. Nicht nur die fehlenden Jobchancen haben sie aus ihrer Heimatstadt vertrieben, vor allen Dingen die dort vorherrschende Mentalität hat sie im Nachhinein genervt. Was es bräuchte, damit sie sich dort langfristig wieder wohlfühlen könne? Die Antwort ist kurz und knapp: „Ne andere Regierung und andere Leute!“ Auf die Frage, ob sie den Menschen in ihrer Heimat die fehlende Zivilcourage zum Vorwurf mache, bekomme ich aber eine versöhnliche Antwort. „Ich bin ja selbst nicht anders.“

Rena hat Einsehen in das Verhalten ihrer Landsleute. Die Machtlosigkeit und die Angst davor, völlig allein gegen Windmühlen kämpfen zu müssen, sollte man es wagen, gegen den Hass vorzugehen, sind ihr begreiflich. Sie versteht, warum vielen Menschen in ihrer Heimat ein öffentlicher Aufschrei dagegen unmöglich erscheint, sie versteht das allgemeine Schweigen. Und doch verklärt sie es nicht. „Ich wollte ja nicht dableiben“, sagt sie mit Nachdruck.

Lösungsversuche

Heute arbeitet Rena Meier als wissenschaftliche Bibliothekarin in Baden-Württemberg. Sie hat Sinn darin gefunden, die Forschenden bei ihrer Arbeit zu unterstützen und auf diese Weise den gesellschaftlichen Fortschritt voranzubringen. Es sei nicht nur wichtig, dass eine Gesellschaft von den Politiker*innen nach dem Willen der Bürger*innen vertreten werde. Sie müsse auch zukunftsfähig gemacht werden. Die einfachen, aber realitätsfernen Lösungsvorschläge aus dem rechten politischen Spektrum würden da einfach nicht ausreichen.

Größere Ziele verfolgt sie derzeit nicht. Wenn möglich, möchte sie irgendwann wieder in die Nähe ihres Heimatortes ziehen, jedoch niemals in die gleiche Stadt zurück. „Oder an die See!“, sagt sie lachend. An der Ostsee sei es schließlich auch sehr schön. Eine höhere Gehaltsklasse wäre auch nicht schlecht. Ansonsten „wurschtele“ sie sich lieber so durch das Leben, erklärt sie und schiebt mit ihrem Zeigefinger gekonnt die letzten Kuchenkrümel auf ihrem Teller zu einem Häufchen zusammen. Und würde ihr der Junge aus der Grundschule heute wieder begegnen, sie würde sich bei ihm entschuldigen.

So ist das Verständnis für unsere Mitmenschen nicht unbedingt gleich als Entschuldigung für deren Verhalten zu werten. Es ist vielleicht schlichtweg die Wahrnehmung ihrer Sichtweise und die Einsicht in die Menschlichkeit. So sieht Rena das jedenfalls. Und so nennt sie mir, auf meine Nachfrage hin, den Song „Radio“ von den Wise Guys, der auf humoristische Weise von der Hoffnung auf ein besseres Leben und der Sehnsucht nach Freiheit erzählt. Das war lange Zeit ihr Lieblingssong. „Er hat mein Fernweh aufgenommen.“

Autorin: Lena Rapp
Bildrechte: Rena Meier

Bildbeschreibung für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen: Das Bild zeigt Rena Meier mit verpixeltem Gesicht auf einer Felskante vor einer Waldlandschaft sitzend, mit einigen schroffen Felsformationen im Hintergrund.