Lebensgeschichten (6): Ein Sommertag im Juli

„Man soll jeden Tag genießen und Rückschläge als Chancen für Neues erkennen.“ Diesen Schluss zieht Renate Tempelmann aus ihrem Leben. Während die lauten Bässe in ihrer Lieblingskneipe ein Gespräch beinahe unmöglich machen, sitzt sie, verschmitzt lächelnd, ein Maß Bier und ihren Wurstsalat vor sich, neben mir auf dem roten Ecksofa. Gegen die Stereoanlage anbrüllend beginnt sie zu erzählen.

Renate wuchs als Tochter eines Fuhrwagenunternehmers auf dem Land auf. Mit dem Ende der achten Klasse brach sie die Schule ab, weil sie endlich eine Lehre beginnen wollte. Doch die Eltern verboten ihr, in so jungen Jahren für eine Ausbildung zur Modedesignerin von Zuhause auszuziehen. Ein gemeinsamer Besuch bei der Berufsberatung des Arbeitsamts verhalf Eltern und Kind zu einem guten Kompromiss: Schauwerbegestalterin. „Der Beruf und ich – wir haben uns gefunden!“, erinnert sich Renate begeistert.

„Dorf ist einfach nicht so meine Mentalität“

Kurz nach Beendigung ihrer Ausbildung verunglückte ihr Bruder. Deshalb musste bei ihm ein Luftröhrenkatheter gelegt werden, auf den er von nun an lebenslang angewiesen sein sollte. Als gelernter KFZ-Mechaniker und Stammhalter in Vaters Firma musste er umschulen und sollte von nun an, völlig entgegen seinem Naturell, Büroarbeit erledigen. Später habe er eine tolle Frau und einen netten Sohn gehabt. Ja, sogar im Elternhaus habe er weiterhin nahezu kostenlos wohnen dürfen. Trotzdem habe ihr Bruder nach dem Unfall nie wieder richtig ins Leben zurückgefunden. Er sei im Selbstmitleid versunken und starb mit 41 Jahren an den Spätfolgen seines Unfalls.

Immerhin: „Gott sei Dank hat er diesen Unfall überhaupt überlebt, denn sonst wäre ich womöglich nie von zu Hause weggegangen.“ Sie hätte ihre Eltern kaum alleine auf dem Land zurücklassen können, aber „Dorf ist einfach nicht so meine Mentalität“.

„Ich habe meinen ersten Ehemann dann so lange bearbeitet, bis wir nach München gezogen sind.“ Schließlich bekam Renate endlich ihren Willen und das Ehepaar zog in die Großstadt. Doch die Ehe hielt nicht lange und Renate ließ sich scheiden. Nur ein Jahr nach der Trennung verunfallte ihr erster Ehemann tödlich.

Endlich der Richtige

Zehn Jahre später fand Renate in München endlich den Mann fürs Leben. Sie heiratete ihn, weil sie ihr Leben mit ihm verbringen und eine gemeinsame Familie gründen wollte, also das, was sie eigentlich unter dem Sinn einer Ehe versteht. Dieser Wunsch erfüllte sich den beiden schon vor der Hochzeit. Jedoch hatte niemand mit mehr als einem Kind gerechnet. „Freudig geschockt“ seien sie gewesen, als sie nur vier Wochen vor der Geburt erfuhren, dass sie Zwillinge bekämen.

Renates kleine Wohnung mitten in München wurde schnell zu klein für dieses unerwartet rasante Familienwachstum. So entschieden sich die Eltern für den Umzug in die Münchner Vorstadt und wohnten von nun an im Hochhaus. Hochhaus-Leben – das kann Renate auch!

„Wenn Renate Tempelmann auch zu den Frauen gehört, die ihr Leben selber in die Hand nehmen und nicht darauf warten, dass jemand an der Wohnungstür klingelt …“ beginnt ein Satz in Ingeborg Goverts SZ-Artikel über die Vorzüge des Trabantenstadt-Lebens vor den Stadttoren Münchens aus dieser Zeit. Schon damals wurde Renate als Beispiel für jemanden gesehen, der sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt, der sich flexibel an die Situation anpassen kann und das Beste daraus macht. Kaum eine Institution im Münchner Vorort war Renate und ihrer Familie bald noch unbekannt, und auch im Hochhaus selbst freundete sie sich mit der großen Nachbarschaft schnell an.

Dennoch wurde die kleine Hochhaus-Wohnung bald zu eng für die vierköpfige Familie. Außerdem hatte der Vermieter bereits Eigenbedarf angekündigt. Ersatzweise entschieden sie sich für den Hausbau in einem kleinen Dörfchen bei Landshut, obschon sie wussten, dass sie von nun an täglich mehrere Stunden nach München zur Arbeit pendeln mussten. Während Renate als Schauwerbegestalterin Karriere bei einem großen Münchner Herrenausstatter machte, betreuten die Schwiegereltern zuhause die Kinder. Neben dem Organisieren wohltätiger Veranstaltungen verbrachten die Tempelmanns ihre übrige Freizeit anfangs auch gern mit ihren zwei kleinen Kindern als Backpacker*innen in Griechenland.

Doch in der Ehe mit ihrem Mann wurde es Renate zunehmend langweilig. Mit der Zeit sei er fast ausschließlich müde auf dem Sofa gesessen. Renate dagegen wollte immer noch „was erleben“. So entfremdete man sich zunehmend und ließ sich schließlich scheiden.

Eine Ehe musste her

Bald darauf lernte Renate beim Tanzen einen neuen Mann kennen. Er war Geschäftsreisender aus Benin und wesentlich jünger als Renate. Um sich zu treffen, musste Renate von nun an jedes Mal ein Touristenvisum für ihren Freund beantragen. Irgendwann waren es die Behörden Leid und stellten die Visavergabe für ihn ein.

Eine Ehe musste her.

Er hatte zwar erzählt, dass er ledig sei und in Afrika zwei Kinder habe, doch so ganz traute Renate der Sache noch nicht. Deshalb bestand sie darauf, gemeinsam nach Benin zu fliegen und dort zu heiraten. Zurück in Deutschland, zog Renates frisch angetrauter Ehemann ins Landshuter Haus der Tempelmanns ein.

Dreimal verheiratet „und jetzt bin ich schon wieder geschieden.“ Renate lacht. Langsam komme ich als Zuhörerin nicht mehr mit. „Das wird anstrengend, gell?“, versucht sie mich zu trösten.

„Ich bin ein Mensch, wenn ich etwas angefangen habe, dann mache ich es auch fertig.“ Auch wenn es in ihrer neuen Ehe immer schlechter lief, die drei Jahre, bis der Ehemann eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland erhielt, wollte Renate unbedingt durchhalten. Damit nicht genug, sie bürgte auch für den Familiennachzug der zwei Kinder ihres Mannes, die sie bald sehr ins Herz geschlossen hatte.

Umzug an den Bodensee

Nach Ablauf der drei Jahre ließ sie sich erneut scheiden. Der Mann sei mit den beiden Kindern ausgezogen. Sie entschloss sich, das Haus in Landshut zu verkaufen. Kurzentschlossen zog sie nach Konstanz, nachdem es ihr bei einer Urlaubsreise dort ganz gut gefallen hatte. Ein weiterer Grund mag sicher auch die Nähe zu ihren Zwillingstöchtern gewesen sein, die mitsamt erstem Enkelkind in Zürich eine neue Heimat gefunden hatten. Obschon sie nun eigentlich schon in Rente gewesen wäre, fing sie bald wieder an, bei Jack Wolfskin zu arbeiten. Nach wie vor machte ihr das Dekorieren dort großen Spaß.

Jahre später meldete sich ihr dritter Exmann mit der Bitte bei ihr, mit seinen beiden Kindern für eine Übergangszeit wieder bei ihr unterkommen zu dürfen. Er wolle sich in Konstanz eine neue Existenz aufbauen. Trotz kleiner Wohnung sagte Renate zu.

Schulerfolge – wichtig für das Selbstbewusstsein eines Teenagers

Nachdem die beiden Kinder ihres Exmanns schon etliche Umzüge und Schulwechsel mit ihrem Vater hinter sich hatten, kamen sie, ein Junge und ein Mädchen, nun auf eine Konstanzer Schule. Während das Mädchen mit den vielen Ortswechseln wie auch den wechselnden Frauen an der Seite ihres Vaters recht gut fertig wurde, kam der Junge in der Schule nicht mehr mit, fand nur schwerlich neue Freund*innen und wurde straffällig.

Renate ist der Meinung, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche sei der Ursprung seiner Probleme gewesen. Erfolge in der Schule seien schließlich ein Grundpfeiler für das Selbstbewusstsein eines Teenagers.

Auch die Beziehung zum Vater mit seinen teils drakonischen Erziehungsmethoden sei schwierig gewesen. Manchmal habe er seinen Sohn geschlagen. „Wenn ich da war, wäre das nicht passiert.“ Aber Renate war eben nicht immer da, sie konnte den Sohn nicht immer vor seinem Vater beschützen.

„Das kann ich deinem Vater dieses Mal nicht verschweigen“

Eines Tages wurde Renate von der Polizei angerufen. Der Junge habe versucht, Fahrräder zu klauen. Bei der Verhaftung habe er außerdem mit einer Fahrradkette nach den Beamt*innen geschlagen. Da niemand sonst aus der Familie erreichbar gewesen sei, solle sie ihn auf der Polizeiwache abholen kommen.

„Das kann ich deinem Vater dieses Mal nicht verschweigen“, sagte sie dem Jungen auf dem Heimweg. Bei seinen vorherigen Vergehen hatte Renate versucht, diese vor dem Vater geheim zu halten. Sie wusste ja, was den Sohn ansonsten erwartete. Aber dieses Mal würde eine Anzeige ins Haus flattern, keine Chance. Daraufhin nahm der Junge Reißaus.

Als er mehr als eine Woche verschwunden war, habe Renate ihren Exmann überredet, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Ein paar Tage später habe die Polizei den Jungen aufgegriffen. Dem Jugendamt seien die Vorfälle in dieser Familie damit zu bunt geworden, es nahmen den Jungen in Obhut.

Ein Sommertag im Juli

Noch vor einigen Wochen war die Welt der Familie in Ordnung gewesen. Am 16. Juni 2013 feierte der Junge seinen 16. Geburtstag auf der Veranda. Einige Freund*innen waren zu Gast, die ganze Familie saß freudig beisammen. Es gab Hähnchen mit Pommes. Einen Monat, einen Fahrraddiebstahl und die Inobhutnahme später, an einem Sommertag im Juli, starb der Junge.

An seinem Todestag besuchte Renate gerade ihre Zwillingsmädchen in Zürich. Von dem Drama, das sich zur gleichen Zeit am Konstanzer Seerhein abspielte, bekam sie dort nichts mit. Familie Tempelmann ging in einen Park zum Grillen. Gegen 21 Uhr abends sonderte sich Renate von der dort feiernden Gruppe ab. Mit einem seltsam flauen Gefühl im Magen schaute sie über den angrenzenden Züricher See.

Ihr neues Handy hatte sie noch nicht für die Schweiz einrichten lassen. Keiner konnte sie erreichen, auch die Tochter ihres Exmannes nicht. Als das Mädchen erfuhr, dass ihr Bruder tot sei, war sie völlig allein.

Über einen Freund gelang es ihr schließlich, Renate zu erreichen. In Zürich gesellte sich zur gleichen Zeit Renates Zwillingstochter zu Renate. Besorgt berichtete sie ihr, jemand habe über ihren E-Mail-Account verzweifelt versucht, Renate zu erreichen, weil Zuhause etwas Schreckliches passiert sei. Der Sohn ihres Exmannes sei beim Baden im Seerhein auf einmal untergegangen. Seine Freund*innen hätten zwar um Hilfe geschrien. Aber sie konnten selbst vermutlich nicht gut genug schwimmen und am Ufer schien sie zunächst niemand zu beachten. Keiner sprang hinterher, um den Jungen zu retten. Irgendjemand hatte offensichtlich die Wasserpolizei gerufen. Diese barg den Jungen weit flussabwärts aus zehn Meter Tiefe. „Der ist ja dunkelhäutig, man sieht den ja auch nicht so schnell unter Wasser“, erinnert sich Renate, als wir heute während eines aufziehenden Gewitters auf der Konstanzer Fahrradbrücke stehen und auf dieses endlos dunkle Nass hinunterschauen. Obwohl er mindestens 30 Minuten unter Wasser gelegen haben musste, gelang es zunächst, ihn wiederzubeleben. Per Rettungsflieger wurde er ins Krankenhaus gebracht, wo er noch am selben Abend starb.

Für „ihre“ Familie

Hals über Kopf ließ Renate in Zürich alles stehen und liegen und fuhr zurück nach Konstanz. Ihr Exmann war ebenfalls auf dem Weg dorthin, hatte jedoch in Memmingen eine Autopanne. Kaum in Konstanz angekommen, raste Renate darum mitten in der Nacht über die Autobahn nach Memmingen, um ihren Exmann aufzusammeln. Danach ging es direkt ins Konstanzer Krankenhaus. Doch erst am nächsten Morgen konnten sie den toten Jungen sehen.

Damit der Junge in seiner Heimat Benin begraben werden konnte, organisierten seine Freund*innen eine Spendenaktion. Sogar der Konstanzer Pianist David Martello widmete ihm auf der Fahrradbrücke ein Spendenkonzert. Doch nur Renate war dort anwesend, welche die Spende für „ihre“ Familie entgegennehmen konnte. Mit dem gesammelten Geld fuhren Vater und Tochter mit dem toten Sohn nach Benin. Sie konnten bei ihrer Familie in Afrika Trost finden. Renate hingegen wurde von niemandem aufgefangen. Kurz nach der Beerdigung in Benin packte ihr Exmann auch in Konstanz seine Sachen und verschwand in einer Nacht- und Nebelaktion mit seiner Tochter nach Bayern.

Renate blieb allein zurück.

Ohne ein Lachen kaum auszuhalten

„Das war alles so ein Horror irgendwie!“, sagt sie und lacht. Auch wenn sie mir von ihren schlimmsten Erlebnissen erzählt, verschwindet das verschmitzte Lächeln nicht von ihren Lippen. Schließlich spreche ich sie direkt darauf an. Auch wenn das Leben herausfordernd sei, grundsätzlich sei es schön. Und wenn es ganz schlimm komme, sei es ohne ein Lachen ohnehin kaum auszuhalten.

Nach dem Unfall des Jungen blieb es in den Medienberichten zunächst offen, ob der Junge von der Konstanzer Fahrradbrücke gesprungen oder als unsicherer Schwimmer der starken Strömung im Seerhein zum Opfer gefallen war. Laut Zeitungsberichten habe es zunächst widersprüchliche Zeugenaussagen gegeben. Letzten Endes konnte die Polizei jedoch für Fremdverschulden ebenso wenig Anhaltspunkte finden wie für den Brückensprung des Jungen. Gemäß dem zuständigen Sachbearbeiter, habe der Junge vom Ufer aus zu einer Plattform auf dem See schwimmen wollen. Auf dem Weg dorthin sei er wohl von der großen Strömung oder dem Strudel in der Nähe eines Pfeilers im Wasser mitgerissen worden. Anhaltspunkt für diese Vermutung? Beim Eintreffen der Polizei hätten sich seine panischen Freund*innen bereits auf besagter Plattform aufgehalten.

Keine Alternative?

Renate jedoch ist sich sicher, dass er von der Brücke gesprungen ist. Am nächsten Tag sei ein Termin mit dem Jugendamt vereinbart gewesen, bei welchem entschieden werden sollte, ob der Junge zu seinem Vater zurückgeht oder einen Platz in einer Jugendeinrichtung außerhalb von Konstanz bekommt. Er wäre nie aus Konstanz weg, schon wieder in eine völlig fremde Umgebung gezogen, meint Renate. Bei dieser Wahl hätte er sich für den Vater entscheiden müssen. An diesem Sommertag im Juli habe er sich darum in einer emotionalen Ausnahmesituation befunden. Sicherlich hätten ihn seine Freund*innen in diesem Zustand leicht zu dieser Mutprobe überreden können. „Du springst da nicht runter! Du kannst nicht gut genug schwimmen!“, habe Renate ihm Wochen vorher eingebläut, als er ihr erzählt hatte, dass seine Freund*innen immer von der Brücke sprängen. „Nein, nein, er springe da nicht runter!“, habe er ihr erwidert.

Vom „liebenswerten Menschen“, der die Fröhlichkeit mitbrachte

Nachdem sich ihr dritter Exmann nach der Beerdigung seines Sohnes gemeinsam mit seiner Tochter nach Bayern abgesetzt hatte, hielt Renate den Kontakt zu dem Mädchen aufrecht. Auch die Beziehung zu ihrem Exmann blieb weiterhin freundschaftlich. Nach dem Tod seines Sohnes war aus dem bis dahin lebensfrohen, mitreißenden und „liebenswerten Menschen, der die Fröhlichkeit überallhin mitgebracht hat“, schlagartig ein strenggläubiger, älterer Herr geworden, der mit seiner Schuld am Tod seines Sohnes schlecht zurechtkam. Nicht mehr der Mann, den Renate einmal geheiratet hatte. Nichtsdestotrotz, am Telefon bringt er sie heute noch zum Lachen.

Eines Tages erzählte er ihr bei einem dieser Telefonate fast beiläufig, dass er jetzt nach Benin fliege und seine Tochter „nicht wieder mitbringt“. „Das kannst du nicht machen!“, habe Renate protestiert. Doch in Afrika entschieden die Männer, wo es langgeht. So musste die Tochter ihres Exmanns von nun an in Benin bleiben.

Jeder Mensch habe eine Bestimmung

Auch der Exmann bleibt mittlerweile wieder vermehrt in Benin. Dass er doch auch schon zu Zeiten der Ehe mit Renate die Beziehung zur Mutter seiner Kinder in Benin im Verborgenen fortgeführt hatte, kam erst nach Renates Scheidung richtig ans Licht.

Renate meint, jeder Mensch habe eine Bestimmung. Die Bestimmung des toten Sohnes ihres Exmannes sei es gewesen, die „Ursprungsfamilie in Benin wieder zusammenzuführen“. Kurz nach dessen Tod habe ihr Exmann nämlich endgültig die Mutter seiner Kinder offiziell geheiratet. Ob Renate zu irgendeinem Zeitpunkt eifersüchtig gewesen sei? Im Gegenteil, im Laufe ihrer letzten Benin-Besuche hätte sie sich mit der afrikanischen Frau ihres Exmannes sehr gut verstanden und sogar angefreundet.

Auch wenn Renate, laut ihrem Exmann, einen schlechten Einfluss auf seine muslimisch erzogene Tochter in Benin ausübte, hielt Renate den Kontakt zu ihrer „Stieftochter“. Sie flog sogar mehrmals nach Benin und besuchte das Mädchen heimlich. Bei ihrem ersten Besuch dort versprach sie ihr, sie eines Tages nach Deutschland zurückzuholen. Wenigstens für sie sollte der Wunsch nach einem Leben in Deutschland in Erfüllung gehen.

In Benin machte das Mädchen den Schulabschluss und beendete ein Studium. Doch trotz dieser hohen Qualifikationen fand sie in dem ehemaligen Kolonialland keinen Job. „Wenn du dort keine Beziehungen hast, hast du keine Chance“, meint Renate. Schließlich hatte der Vater ein Einsehen. Er erlaubte Renate, seine Tochter vor wenigen Monaten wieder zu sich nach Deutschland zu holen, damit diese dort noch einmal studieren und eine gutbezahlte Anstellung finden kann. Eine Arbeit hat sie bereits, die hat Renate ihr besorgt. Aktuell wohnt und arbeitet sie zusammen mit ihrer „Pflegetochter“, wie sie sie nennt. Endlich ein kleines Happy End.

„Das Leben bietet immer Überraschungen“

Noch heute erinnert sie sich bei jeder Fahrt über die Fahrradbrücke an diesen Sommertag im Juli. Als wir uns jetzt die Stelle anschauen, wo damals nach dem Unglück ihres „Stiefsohnes“ sein Name auf dem Brückengeländer stand, kommt vieles wieder hoch. Dieses Jahr ist es genau zehn Jahre her. Ein guter Anlass, um erneut das Brückengeländer zu beschriften, findet Renate. Dann beginnt sie: „Ich habe früher damit gehadert, dass ich die Kinder nach Deutschland geholt hatte, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen …, nicht um ihnen …, … dass er hier stirbt.“

Wir brechen das Interview ab. Ich habe das Gefühl, dass es ihr zu viel wird.

Doch sie möchte keine Erfahrungen missen, „auch wenn es Schlechte waren“, bekräftigt sie noch, als sie sich wieder halbwegs gefangen hat. Im Gegenteil, „das Leben bietet immer Überraschungen“, so hätte sie diesen Text genannt, hätte sie ihn selbst schreiben müssen.

Dieser Tag im Jahr 2013 war ein Schicksalsschlag, ein einschneidendes Erlebnis, doch er mache ja nicht ihr ganzes Leben aus. Es sei auch nicht der einzig prägende Moment in ihrem Leben gewesen, lediglich sei er noch nicht so lange her, die Gefühle, die Erinnerung und die Erfahrungen noch relativ frisch im Vergleich zu anderen wichtigen Lebensmomenten.

Der „Sommertag im Juli“ zeigt vielmehr, wie sehr wir dazu neigen, Erlebnisse und Informationen gegeneinander abzuwägen, „Unwichtiges“ wegzulassen, zu vereinfachen. Doch wer genau hinsieht, wird sehen, dass Renates Leben eines voller Überraschungen war und ist, nicht aber allein ein „Sommertag im Juli“.

Das Leben auskosten mit allen Konsequenzen, ganz und gar, dazu passt auch Renates Lieblingssong „Irgendwann bleib i dann dort“ von der Österreichischen Rock-Pop-Band „S.T.S“.

Autorin: Lena Rapp
Bild: Renate Tempelmann

Bildbeschreibung für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen: Mit wehenden weißen Haaren und Sonnenbrille sitzt Renate Tempelmann vergnügt lächelnd auf dem Deck einer Fähre. Sie verschränkt ihre Arme. Ihre türkise Jacke hat sie in einem lockeren Knoten um die Schultern gebunden. Im Hintergrund ist das blaue Meer zu erkennen. Eine bewaldete Landschaft schimmert am Horizont.