Zwischen allen Stühlen: Fremd werden – fremd sein: fremd bleiben?

Am Dienstag, 20. Juni, wird um 18 Uhr im Zebrakino der Dokumentarfilm „The Medea Element“ gezeigt. Der Film erzählt von einem Theaterprojekt zwischen Schauspielstudierenden, professionellen Theatermacher:inne:n und Kindern aus Romafamilien zwischen 8 und 14 Jahren. Unser Autor sprach mit dem Projektleiter, Prof. Georgi Gochev von der New Bulgarian University/Sofia.

Ich treffe Georgi Gochev im Videochat. Es dauert ein wenig, bis die Verbindung hergestellt ist. Georgi Gochev sitzt in der Lobby eines Hotels irgendwo am Schwarzen Meer. Im Hintergrund sieht man einen Gummibaum und eine Mauer aus rotem Backstein. Immer wieder laufen Hotelgäste oder Teilnehmer:innen der Konferenz, deren Pause Georgi für das Gespräch mit mir nutzt, durchs Bild.

Georgi Gochev ist Altphilologe. Dem Theater ist er eigentlich nur theoretisch als Übersetzer antiker Dramen verbunden und über seine Exfrau, die Schauspielerin Snezhina Petrova. Das Projekt wird ihn und seine Arbeit grundlegend verändern. „Irgendwie beeinflusst der Medeamythos Dein eigenes Leben. Es hat alles verändert“, sagt er nachdenklich. „Heute lese ich die Texte nicht mehr mit meinen Studierenden, sondern versuche, sie unmittelbar szenisch umzusetzen.“[1] Und er erzählt gleich sehr lebendig von seinem aktuellen Projekt, einer Neuübersetzung und theatralischen Inszenierung von Aristophanes‘ Komödie „Lysistrata“, die er – genauso wie Medea – als antike Intonation eines höchst gegenwärtigen Problems sieht.

„Medea“ als gleichermaßen soziales wie theatralisches Experiment

2019 war die zweitgrößte Stadt Bulgariens, Plowdiw, „Europäische Kulturhauptstadt“. Im Rahmen dieses Programms beginnt das Ehepaar Gochev-Petrova im Jahr 2017 das Projekt „Medea“ als gleichermaßen soziales wie theatralisches Experiment. Georgi erarbeitet eine Neuübersetzung Medeas sowie ein sehr reduziertes, aber dem Text der originalen Tragödie von Euripides nahes Spielszenario, dem man sich auch mit Acht- bis Zwölfjährigen nähern kann. „Wir wollten den Text den Kindern nicht erklären, ihnen keine Vorträge halten, sondern wählten eine spielerische Herangehensweise, bei der Methoden des Sozio- und Psychodramas zum Einsatz kamen. Es war uns wichtig, einen emotionalen Zugang zu den Vorgängen in dem Stück zu erhalten.“

Insgesamt wurden es zehn Workshops, die direkt in den Romavierteln durchgeführt wurden. Ein wagemutiges Unterfangen in einem Land, in dem diesen Bevölkerungsgruppen großer Hass entgegengebracht wird. 2019 ist in einem Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu lesen: „Im Alltag werden Roma […] auf fast allen Ebenen diskriminiert – von separaten Behandlungsräumen in Krankenhäusern bis zu getrenntem Unterricht in den Schulen. Für viele ethnische Bulgaren ist die Volksgruppe ein Feindbild. Die Minderheit wird für nahezu alle sozialen und wirtschaftlichen Übel eines Landes verantwortlich gemacht, das als ewiges Schlusslicht der EU gilt. Es herrscht eine kollektive Verachtung, die sich immer wieder entlädt.“[2]

Die Spielsituation des Medeaprojektes bildet genau diese Spaltung ab: Die Kinder sollten sich eine Stadt vorstellen, die aus zwei Vierteln besteht, vorstellen: Jasons Burg und Medeas Hotel.

Die Kinder sollten sich eine Stadt vorstellen, die aus zwei Vierteln besteht

Im antiken Mythos ist Medea der Name einer Zauberin aus Kolchis, einem sagenumworbenen Goldland der Antike, heute meist mit dem westlichen Georgien am Schwarzen Meer mit der Stadt Kutaissi als Zentrum identifiziert. Dorthin verschlägt es eine Gruppe griechischer Abenteurer unter Führung von Jason, einem meist eher chameurartig als kriegerisch beschriebenen Helden. Sie befinden sich auf einem Himmelfahrtskommando, auf das sie der um seine Macht fürchtende korinthische König Pelias geschickt hat. Sie sollen ein goldenes Widderfell, das in Kolchis im Hain des Kriegsgottes aufbewahrt wird, nach Korinth bringen.

Wie so oft in antiken Sagen durchkreuzen die Götter die Pläne der Menschen und verhelfen so dem Schicksal – Jason soll Pelias vom Thron stürzen – zum Ereignis: Die Liebesgöttin lässt des kolchischen Königs Tochter, Medea, in einseitiger Leidenschaft zu Jason entbrennen. Sie tut alles, um ihn zu unterstützen, sein Leben zu retten und seiner Mission zum Erfolg zu verhelfen. Auf der Flucht von Kolchis schläft sie sogar mit Jason, der sie erkennbar nicht liebt, um sich der Unterstützung eines Inselvolkes zu versichern, das die merkwürdige Sitte hat, nur Verheirateten, die ihre Ehe tatsächlich auch vollzogen haben, Schutz zu gewähren.

… ohne einen Ort zu bleiben

Und dann ist Medea in Korinth. Jason will nichts mehr von ihr wissen. Sie steht allein, eine Fremde, Ausgestoßene, da, ohne einen Ort zu bleiben, auch ohne einen Ort, an den sie zurückkehren kann. Kurz und gut: eine Geflüchtete, eine Gestrandete. „Euripides führt Medea als ‘phugas’ ein, ein Wort, das für Menschen im Exil, auf der Flucht, vertrieben, verletzlich, eines Zufluchtsorts bedürftig, verwendet wird.” (Demetra Kasimis[3])

Euripides‘ Medea begibt sich an den einzigen Ort, der ihr noch bleibt: das nicht-irdische Reich der Götter. Sie bringt Jasons Braut und ihre eigenen Kinder um und entflieht auf einem drachengezogenen goldenen Wagen, den der Sonnengott schickt.

Harter Toback, dieser Stoff. Und eigentlich schwer vorstellbar, ihn mit Kindern zu bearbeiten. Diese erhielten die Aufgabe, die Situation einer Familie, deren einer Teil im Zentrum der Macht und deren anderer Teil in einer temporären Flüchtlingsunterkunft untergebracht ist, zu lösen. Was sollen diese beiden Parteien nun tun? Was könnte man hier tun, damit es nicht zur Katastrophe kommt? Aber auch: denkt Euch in Jason hinein, der Medea nicht will. Denkt Euch in Medea hinein, die alles verloren hat. Angesichts der anhaltenden Übergriffe der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft auf Roma ist diese Aufgabe wohl näher an der Lebenswirklichkeit von Romakindern dran, als wir uns das vorstellen können oder auch nur wollen.[4]

Wie kann man Theater machen, ohne einander auch physisch nahezukommen?

So ein Projekt sieht sich jedoch nicht nur mit Anfeindungen von außen, sondern auch Annäherungsschwierigkeiten von innerhalb der Romacommunity konfrontiert. „In Romafamilien haben Jungen und Mädchen normalerweise kaum Kontakt zueinander“, sagt Georgi Gochev, „Sie kommunizieren nicht miteinander. Vor allem berühren sie einander nicht. Ein Mädchen zu berühren, bedeutet, dass Du mit ihr Sex haben möchtest. Wenn also ein Junge ein Mädchen berührt, muss er es heiraten. Von der Berührung ist der Weg zur Gewalt sehr kurz.“

Georgi Gochev guckt sehr ernst. Ich bin verwirrt. Wie kann man Theater machen, ohne einander auch physisch nahezukommen? Wie können Familien einem Projekt zustimmen, das sich strikt gegen die Prinzipien ihrer gesellschaftlichen Gruppe wendet? Das frage ich dann.

„Ja“, sagt Georgi nach kurzer Pause, „es war eine sehr ambivalente Erfahrung. Die Eltern kamen mit ihren Kindern zum Workshop, aber sie kamen nicht in den Raum, in dem wir arbeiteten. Sie waren nicht dabei. Einige waren froh über die Möglichkeit des Workshops, weil sie darin eine Integrationschance sahen. Andere waren unzufrieden, weil es gegen die Grundüberzeugungen ihrer Gemeinschaft ging. Die meisten verhielten sich aber sehr unterstützend.“ „Aber“, hake ich nach, „was war mit denen, die nicht einverstanden waren. Warum gaben sie ihren Kindern die Erlaubnis, mitzumachen?“ „Weil sie sonst noch ausgeschlossener gewesen wären, da die Freundinnen und Freunde ihrer Kinder mitmachten. Wir arbeiteten mit Sozialarbeitern vor Ort, die innerhalb der Communities Vertrauen genießen. Wir haben nicht versucht, direkt mit der Community in Kontakt zu treten. Allein ein Romaghetto zu durchlaufen, ist für Nicht-Roma gefährlich. Mediatoren haben uns also den Familien vorgestellt. Nur so funktioniert das. Es geht um Vertrauen.“

Viele sind zum ersten Mal ins Theater gegangen

Und nachher? Kann so ein Projekt tatsächlich soziale Situationen verändern?

„Das ist natürlich schwer messbar. Aber es veränderte zumindest die unmittelbare Situation der Beteiligten. Viele sind zum ersten Mal ins Theater gegangen. Sie haben die ganze Zeit über applaudiert. Dort zu sein, erzeugte Gefühle von Freude, ja, Glück. Das ist der unmittelbare Effekt, den man direkt beobachten konnte. Viele der partizipierenden Romafamilien haben sich zum ersten Mal ins Zentrum ihrer eigenen Stadt begeben“

Am 20. Juni wird Georgi Gochev im Zebrakino sein und im Anschluss an die Präsentation seines Projektes im Film mit Hilde Schneider ein Gespräch über die Möglichkeiten von Theater im Integrationsprozess führen. Hilde Schneider hat gemeinsam mit Heinke Hartmann in Konstanz das Projekt „Von/Einander/Kennen/Lernen“ durchgeführt.[5] In diesem Projekt treffen Einheimische und Neuzugewanderte mit unterschiedlichen Herkunftssituationen aufeinander und lernen mit- und voneinander.

Text: Albert Kümmel-Schnur
Bilder: Mit freundlicher Genehmigung von Georgi Gochev

[1] Das Gespräch wurde auf Englisch geführt. Die Übersetzung stammt von mir.
[2] https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-05/bulgarien-roma-angriffe-diskriminierung-rechtsradikalismus-gabrowo-eu-wahlen‘
[3] https://www.cambridge.org/core/journals/review-of-politics/article/abs/medea-the-refugee/14587D45D179C8A5BF4F875C6A08B2DB (meine Übersetzung)
[4] Für eine kleine Zeitungslese zum Thema empfehle ich, einfach „Roma Bulgarien“ zu googlen. Es entsteht ein ebenso einhelliges wie erschreckendes Elendsbild.
[5] https://www.konstanz.de/service/pressereferat/pressemitteilungen/_von_einander_kennen_lernen_