Ein Hinweis zu Berdytschiw – Wassili Grossman, Leben und Schicksal

In den „Bewerbungsunterlagen“ Berdytschiws um eine Städtepartnerschaft mit Konstanz lesen wir, die Stadt sei für ihre wundertätige Ikone der Gottesmutter, das Grab des chassidischen Rabbiners Levi Jizchak und als der Ort bekannt, in dem Honoré de Balzac die polnische Adelige Ewelina Hanska heiratete. Dass Berdytschiw auch ein Schauplatz des nationalsozialistischen Völkermords an den osteuropäischen Juden war, erwähnt man nicht – vielleicht aus Höflichkeit. Doch darum soll es hier nicht gehen, sondern um einen in Berdytschiw geborenen Journalisten und Schriftsteller, dessen sich zu rühmen der Stadt auch gut anstünde: Wassili Semjonowitsch Grossman.(1)

Der, so die NZZ, gehöre zwar nicht zu den bekannten Namen der modernen russischen Literatur. Und doch stamme aus seiner Feder ein atemberaubendes literarisches Werk, das bisher erst unzulänglich wahrgenommen wurde.(2) Mit seinem opus magnum „Leben und Schicksal“ (Жизнь и судьба) habe Grossman „ein Stalingrad-Epos [geschaffen], das mit schonungsloser Offenheit alle schmerzlichen Themen der sowjetischen Kriegserfahrung anspricht.“ „Leben und Schicksal“ beginnt mit dem Satz „Über der Erde lag Nebel“. Mir scheint, in einem Nebel nicht nur des Krieges, wie es viel zitiert bei Clausewitz zu lesen ist, leben derzeit auch wir. Ein Nebel, der zudem vergiftet ist von noch ungeklärten Verwicklungen unserer Eltern und Großeltern in die unfassbaren Verbrechen des deutschen Vernichtungskriegs, denen wir uns immer noch stellen müssen. Das Eis ist noch immer dünn, Zurückhaltung und Besonnenheit sind angebracht.

Die gnadenlose Wahrheit des Krieges

Beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde Grossmann vom Einsatz in der Armee freigestellt, meldete sich jedoch freiwillig zur Front und verbrachte dort drei Jahre als Kriegsreporter der Armeezeitung Roter Stern. „Wassili Grossman gehört zu den Korrespondenten, die am längsten in der umkämpften Stadt (Stalingrad) aushalten. Später wird er in ‚Leben und Schicksal‘ Stalingrad als Kulminationspunkt der Freiheitshoffnungen sowjetischer Menschen beschreiben: Kämpfend und weitgehend auf sich gestellt, hatten die Verteidiger Stalingrads eine Art schleichender Entstalinisierung vollzogen. Doch mit der Aussicht auf den Sieg zog Stalin die Zügel wieder an: Das ‚Rezidiv der Repression’, wie der russische Kritiker Lazarev es nannte, bekamen zuerst die sowjetischen Juden zu spüren.“

[the_ad id=“94028″]In einer Besprechung des Deutschlandfunks heißt es: „Wassili Grossman, der 1943 durch die befreiten Gebiete der Ukraine gefahren war, konnte seinen Bericht ‚Ukraine ohne Juden‘ über die deutschen Massaker an der jüdischen Bevölkerung nicht mehr im „Roten Stern“ veröffentlichen. Er erschien im Spätherbst 1943 auf Jiddisch in „Ejnikejt“, dem Organ des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. In dessen Auftrag und zunächst gemeinsam mit Ilja Ehrenburg arbeitete Grossman an einem Schwarzbuch über die Verbrechen an den sowjetischen Juden. Der fertige Satz dieser Dokumentation wurde 1948 vernichtet. Wundersamerweise überlebte das Manuskript und konnte 1980 erstmals in Israel gedruckt werden. In der Sowjetunion ist das Schwarzbuch nie erschienen – der jüdischen Opfer der deutschen Okkupation durfte nicht explizit gedacht und die Kollaboration vieler Ukrainer musste verschwiegen werden.

Als die Rote Armee im Januar 1944 Grossmans Heimatstadt befreite, die damals noch russisch Berditschew hieß, erhielt der Autor Gewissheit, dass seine Mutter bereits zu Beginn der deutschen Besatzung, im September 1941, mit allen Bewohnern des Ghettos erschossen worden war. Von den 30.000 Juden der Stadt überlebten nur wenige.“(3)

Grossman dagegen stand mitten im Gefecht

„Beim Schreiben seines ersten Mammutwerks hatte der ausgebildete Chemiker Wassili Semjonowitsch Grossman, der als junger Mann mit Kurzgeschichten hervorgetreten und von Maxim Gorki gefördert worden war, das Vorbild von ‚Krieg und Frieden‘ ständig vor Augen. Doch der entscheidende Unterschied war ihm bewusst: Tolstoi hatte seinen großen Roman über Napoleons Feldzug gegen das russische Zarenreich fünfzig Jahre nach den Ereignissen und mit der Abgeklärtheit des Nachgeborenen verfasst. Grossman dagegen stand mitten im Gefecht. […] Doch es war nicht Zeugenschaft allein. Seine Fähigkeit, sich dem Gegenüber mit Offenheit und Neugierde zu nähern, muss einzigartig gewesen sein, und er wurde zum meistgelesenen sowjetischen Berichterstatter des Zweiten Weltkriegs.“ (Paul Ingendaay 2021 in seiner Rezension von Grossmans anderem großen Roman „Stalingrad“.)(4)

Die Lektüre großer Literatur über vergangene Kriege, wie dieses Romans von Wassili Grossman, kann in Zeiten eines in der Nähe eskalierenden Krieges ernüchtern, vor Schwarz-weiß-Denken bewahren, als Antidot gegen Kriegsbegeisterung wirken und die Solidarität mit Geflüchteten, Kriegsopfern und Kriegsgegnern auf allen Seiten fördern. Es muss nicht unbedingt Ernst Jüngers „Stahlgewitter“ sein, da wären zum Beispiel Dubravka Ugrešics „Die Kultur der Lüge“ oder auch Uwe Nettelbecks „Dolomitenkrieg“.

Text: Helmut Reinhardt; Bild via Wikipedia von Andrew Butko, Permission is granted to copy, distribute and/or modify this document under the terms of the GNU Free Documentation License, Version 1.3 or any later version published by the Free Software Foundation

Anmerkungen

(1) „Grossman (1905–1964) wurde als Josif Solomonowitsch Grossman in einer aufgeklärten jüdischen Familie in Berditschew in der heutigen Ukraine geboren. Er erhielt keine traditionelle jüdische Erziehung und beherrschte nur einige Worte Jiddisch. Ein russisches Kindermädchen wandelte seinen Namen Jossja in das russische Wassja (ein Diminutiv von Wassili), was von der ganzen Familie akzeptiert wurde. Grossmans dokumentarische Beschreibungen der ethnisch gesäuberten Ukraine, Weißrusslands und Polens, des Vernichtungslagers Treblinka und des KZ Majdanek gehörten zu den ersten Augenzeugenberichten – schon 1943 – dessen, was später als der Holocaust bekannt wurde. Sein Artikel Die Hölle von Treblinka von 1944[2] wurde während der Nürnberger Prozesse als Dokument der Anklage verbreitet.“ Quelle Wikipedia.

(2) https://www.nzz.ch/das_letzte_epos-ld.456827

(3) https://www.deutschlandfunk.de/die-gnadenlose-wahrheit-des-krieges-100.html Besprochen wurde in dieser Sendung auch „Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941-1945“ 2007 herausgegeben vom britischen Historiker Antony Beevor unter Mitarbeit von Luba Vinogradova mit bislang unveröffentlichten Schriften des einstigen Kriegskorrespondenten Grossman.

(4) https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/wassili-grossmans-roman-stalingrad-erstmals-vollstaendig-erschienen-17627712-p2.html