Lesermeinung: Halleluja!
Der Beitrag von Wolfgang Kessler („Ende der Harmonie zwischen Kirche und Politik“ vom 26.1.), in dem ein Sozialwort der Kirchen gefordert wird, stößt auf heftigen Widerspruch. Nachstehend eine Textkritik nebst Buchempfehlung zum Thema.
Mir fiel es nach der Lektüre dieser Bußpredigt wie Schuppen von den Augen. Warum bin ich darauf bisher noch nicht gekommen. Das ist endlich die Lösung unserer Probleme: „Ein Sozialwort der Kirchen könnte die Diskussion über die Zukunft Deutschlands, aber auch der Welt (sic!) deutlich beleben …
Damit könnten die Kirchen zwei Ziele auf einmal erreichen: Die Regierenden müssten sich provokativen Forderungen stellen. Zugleich könnten die Diskussionen auf allen Ebenen viele Menschen aus jener Resignation reißen, mit der sie der Politik heute begegnen. Die Demokratie ginge wieder vom Volke aus.“ Ich ziehe wirklich den Hut vor dem prophetischen Mut deutscher Christen beider Konfessionen, die — drohendem Kirchensteuerentzug zum Trotz — todesmutig „immer wieder mutige Äußerungen“ gegen den Kapitalismus äußern. Mehr noch, der stellvertetende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland wirft für diese Überzeugung sogar (zumindest verbal) einen Stein.
Donnerwetter, Respekt. Wer will da noch darüber reden, dass diese christlichen Kirchen nicht nur mit zu den größten Grundbesitzern im Land gehören und auch ansonsten kräfig mit am Rad kapitalistischer Profitmacherei drehen, sondern auch den Lohnabhängigen in ihren Einrichtungen notorisch grundlegende Rechte wie das der Mitbestimmung und der Tarifautonomie vorenthalten. Der Mut, mit dem sich hier Kirchenvertreter gegen den Ungeist des Neoliberalismus stemmen, macht natürlich auch vergessen, dass sich unsere Kleriker nur zu gern an dem Angebot bedienen, das der Markt von 1-Euro-Jobbern und Hartz-IV-Empfängern bietet.Das schreit ja dann geradezu danach, sofort um Audienzen bei den einschlägigen Basisbetbrüdern, Bischofskonferenzen und natürlich dem Vatikan einzukommen — von den Christen lernen heißt offensichtlich siegen lernen.
Das kann ja wohl nicht euer Ernst sein!
P.S.: Ohne belehrend wirken zu wollen, hier ein längeres Zitat von
Michael Schmidt-Salomon zum Thema „aufgeklärtes Christentum“ oder warum Religion immer das Problem ist und niemals die Lösung sein kann (Literaturnachweis: Michael Schmidt-Salomon, Manifest des Evolutionären Humanismus, Alibri Verlag, 2006, ISBN: 3-86569-011-4).
„Man könnte sich ja möglicherweise achselzuckend mit den intellektuellen Verrenkungen, dem logisch inkonsistenten Amalgam von aufgeklärtem Denken und archaischem Glauben der Weichfilter-Christen (oder auch der Anhänger des sog. „Euro-Islam“) abfinden, bestünde da nicht die sehr reale Gefahr, dass die fundamentalistischen Reintypen der Religionen, deren Bedrohungspotentiale aufgrund der so handzahmen religiösen „Light-Versionen“ gerne übersehen werden, mehr und mehr an Attraktivität gewinnen.
Gerade liberale, aufgeklärte Kirchen wie die EKD, die häufig nur noch rein sprachlich („Leerformeln“) den Kontakt zur christlichen Tradition aufrecht erhält, verlieren immer stärker an Mitgliedern. Zum Teil wandern diese ab in Richtung Säkularismus (wer nicht mehr gezwungen ist, an einen realen göttlichen Heilsplan etc. zu glauben, kann sich auch offensiv zu naturwissenschaftlichen, philosophischen Erklärungsmustern bekennen!), ein sehr beachtlicher Teil der ehemaligen Mitglieder liberaler Kirchen sucht ihre neue geistige Heimat jedoch in fundamentalistischen Gefilden. In evangelikalen Gruppierungen beispielsweise wird die religiöse Botschaft noch ernst genommen, was u. a. den Vorteil hat, dass die religiöse Heilserzählung in sich stimmig bleibt.
Ein christlicher Fundamentalist weiß — und das ist sein Vorteil gegenüber dem liberalen (Tauf-) Schein-Christen! –, dass Jesu Erlösungstat „ohne Voraussetzung von Hölle und Teufel in etwa so sinnlos ist wie ein Elfmeterschießen ohne gegnerische Mannschaft“. Dem kann der aufgeklärte, humanistisch denkende „Realo-Christ“, der bei genauerer Betrachtung recht unbequem zwischen den Stühlen Obskurantismus und Aufklärung sitzt, argumentativ nur sehr wenig entgegen halten. Dies ist einer der Gründe dafür, warum die Mischform der (halbwegs) „aufgeklärten Religion“, die in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg besonders populär war, zunehmend in Auflösung begriffen ist.“
Urbi et Orbi,
Autor: J. Geiger