Wenn Ratingagenturen die Wirtschaft ver-rücken

Politik und Medien halten das staunende Publikum dazu an, auf Buchstaben-Kombinationen dreier Ratingagenturen zu starren, weil die (angeblich) für Wohl und Weh von Banken und Unternehmen, von Nationen und Wirtschaftsregionen stehen: AAA oder gar nur BBB? Werden Banken oder Staaten von Standard&Poors, Moody`s und Fitch – sie beherrschen 95 Prozent des Rating-Weltmarktes – herunter gestuft, dann bricht Finsternis aus, schmelzen Renditen dahin, werden Arbeitsplätze vernichtet. Absurd

Noch absurder wird es, wenn wir bedenken, dass diese Ratingagenturen der systematischen Irreführung und Fehlbewertung von Finanzpapieren überführt worden sind und heute, also vier Jahre nach dem Ausbruch der Finanzmarkt- und Bankenkrise, die sie mit diesen Täuschungen mitverursacht haben, wieder unumstritten agieren. Was war alles zu hören von der Politik, in Deutschland, in Europa, quer durch alle politischen Lager: Wir brauchen eine öffentliche Ratingagentur für Europa. Macht und Reputation dieser drei US-Ratingagenturen müssen gebrochen werden. Ergebnis? Niente, nada, nothing, nichts, buchstäblich nünt. Woher rührt die ungebrochene Macht dieser Ratingagenturen?

Das Zeug zum Standardwerk

Werner Rügemer hat ein Buch zu diesem Thema geschrieben, es hat das Zeug zum Standardwerk. Eine Warnung vorweg: Es ist flüssig und meist gut verständlich geschrieben, es werden viele Begriffe und Namen eingängig erläutert. Trotzdem sollte es nur derjenige kaufen, der ein hohes Interesse an diesem Thema hat, denn Rügemer zeichnet nicht nur Macht- und Funktionsweise der Ratingagenturen nach, sondern geht zudem – beispielsweise bei den Besitzverhältnissen – der Sache in allen Verästelungen und Details auf den Grund.

Rügemer kombiniert zwei Elemente: Er schürft einerseits tief. Rügemer verliert sich jedoch nicht in diesen vielen Details, sondern ordnet sie ein in einen übergreifenden analytischen Ansatz: Er interpretiert die Ratingagenturen – die gemessen an Umsatz und Mitarbeiterzahl so klein, harmlos und schmächtig daherkommen – als die Zentren der Kapitalmacht. Weil sie mit milliardenschweren Hegdefonds, Investmentbanken und Privatunternehmen engstens verflochten sind, konzentrieren sich in ihnen, so Rügemer, die Machtströme des weltweit agierenden Kapitals. Die Frage, wem die Ratingagenturen gehören, beantwortet er so: „Sie gehören denen, die auch Miteigentümer der großen Banken und multinationalen Konzerne sind“.

Die „verfilzte Kapitalmacht“ wird geschützt

Ihre zweite Machtquelle speist die regierende Politik in allen wichtigen Industrienationen: Die Ratingagenturen haben von ihr die hoheitliche Aufgabe verliehen bekommen, „das Kreditwesen zu regulieren“. So lassen beispielsweise EU und EZB Finanzprodukte und Staaten von den Ratingagenturen bewerten. Staaten und Pensionsfonds verpflichten sich oder werden verpflichtet, auf Auf- und vor allem Abwertungen von Ratingagenturen zu reagieren, beispielsweise indem sie abgewertete Finanzpapiere sofort verkaufen oder gar nicht kaufen.

Mit ihren Bewertungen entscheiden die Ratingagenturen also über Schicksale von Unternehmen und Staaten. Jedoch: Juristisch gelten diese Analysen in den USA als Meinungsäußerungen, weshalb die Agenturen für Folgen und Wirkungen ihrer Stellungnahmen zumindest dort nie belangt werden können. Der Befund von Rügemer: Diese „verfilzte Kapitalmacht“, so mächtig sie auch sei, könne sich nur halten, weil sie „von staatlichen und staatsnahen privaten Institutionen geduldet, geschützt und gestützt würde“.

Wer das Buch von Rügemer gelesen hat, der weiß, dass in unserer Wirtschaftswelt vieles buchstäblich ver-rückt ist: die Maßstäbe, die Machtverhältnisse, die Verantwortung. Dieses Ver-rückte gilt bei uns als normal. Erst wenn diese Verhältnisse, die Rügemer mit dem Skalpell analysiert, gemeinhin auch als ver-rückt gelten, sind unsere Verhältnisse wieder halbwegs normal.

Autor: Wolfgang Storz/WOZ

Das Buch: Werner Rügemer, Ratingagenturen. Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart, Bielefeld, 2012, 196 Seiten, 18,80 Euro.