Auf der Straße, für die Straße
Während sich die deutsche Linke langsam ins politische Abseits zu manövrieren droht, zeigt ein Blick in die benachbarte Schweiz, dass es auch anders geht. Selbst scheinbar aussichtslose Wahlen lassen sich ohne teure PR-Büros, prall gefüllte Geldkoffer und politische Leerformeln gewinnen. Ein Buch über den Ständeratswahlkampf von Paul Rechsteiner sei all jenen empfohlen, die das Wesentliche aus den Augen verloren haben.
St. Gallen hat jetzt zwei Politstars. Seit längerem einen rechten – Karin Keller-Sutter (FDP). Und neuerdings einen linken – Paul Rechsteiner (SP). Sie vertreten seit Dezember 2011 in Bern den Stand St. Gallen. Dass es einmal soweit kommen würde, sprengte das Vorstellungsvermögen aller Bürgerlichen und selbst das von Rechsteiners eigener Partei. Die bürgerlichen Blätter redeten seine Kandidatur zunächst klein, stellten sie als aussichtslos hin und das grösste Regionalblatt schnitt Rechsteiner, so gut es eben ging. Als er seine linke Kampfkandidatur bekannt gab, wettete kaum jemand auf ihn. Einer glaubte daran: Rechsteiner. Weshalb er eine Chance witterte, wie er den Wahlkampf akribisch vorbereitete, WeggefährtInnen um sich scharte, auf einem von der SP unabhängigen Wahlkomitee beharrte und eine partei- und schichtenübergreifende Bewegung auslöste, darüber erzählt das Buch «Eine andere Wahl ist möglich».
Aus der Innenperspektive
Das Buch ist aus der Innenperspektive erzählt, vom Autor, Journalisten und Wahlhelfer Ralph Hug. Es ist von entwaffnender Offenheit. Ob’s ums liebe Geld geht (180 000 Franken Wahlbudget für zwei Wahlgänge) oder um Strategie, um eine Linke in der Depressionsfalle, um Zufall oder den «Glücksschock» am Wahltag — es lässt nichts Wesentliches aus. Wenn auch mitunter ein pathetisches Lüftchen manche Passagen bestreicht, belästigt es die LeserInnen nicht mit Nabelschauen. Es erzählt, vergisst dabei aber die Analyse nicht. Etwa den Zerfall der bürgerlichen Politkultur am östlichen Ende der Schweiz.
Warum die Wahl möglich war
Die Wahl war möglich, weil die bürgerlichen Parteien sich nicht einig waren. Sie war möglich, weil diese die Folgen der Finanzkrise und der Frankenstärke für die normalen BürgerInnen nicht ernst nahmen. Sie war möglich, weil die CVP (Christdemokraten) kläglich in der Sache nichts zu sagen hatte, aus Mangel an Alternativen einen unbekannten Politneuling auf den Schild hob und im Wahlkampf mit üblen Gerüchten auf den Mann spielte. Sie war möglich, weil viele St. GallerInnen genug hatten von der rechtskonservativen SVP. Die Wahl war auch möglich, weil Paul Rechsteiner zusammen mit seinem Team die Ausgangslage richtig analysierte.
Möglich machte diese Wahl aber auch ein Kandidat, der in schwierigen Zeiten tat, was er schon immer getan hatte – mit grossem Ernst und ohne Mätzchen Politik und Gewerkschaftsarbeit betreiben. Möglich machte diese Wahl, weil Paul Rechsteiner über Jahrzehnte seine Unbestechlichkeit bewiesen hatte. Möglich machte diese Wahl ein Kandidat, der sich als Anwalt einen Namen gemacht hatte, weil er auch nach seinem Aufstieg in den Nationalrat und an die Spitze des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes die kleinen Leute nicht vergass und sie vor Gericht vertrat.
Straßenwahlkampf
Und Rechsteiners Team setzte auf politische Inhalte – verkürzt auf den Slogan: gute Löhne, gute Renten und Menschenwürde. Und es griff auf ein Mittel zurück, das die Linke im Kanton St. Gallen in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachlässigt hatte: den Straßenwahlkampf, direkt zu den Leuten gehen, ihnen zuhören, die Stadt verlassen, in den Agglos vor Einkaufszentren mit den Menschen sprechen. Das war auch für den persönlich eher unzugänglich wirkenden Politiker eine neue Erfahrung.
Ständeratswahlen sind auch Persönlichkeitswahlen. Auf das Wahlplakat musste ein Konterfei Rechsteiners. Auch das hatte es bei ihm zuvor nicht gegeben. Doch auch darin blieb sich der Anwalt treu: Er brauchte kein neues Image. Er trat auf, wie er immer auftrat: Ernsthaft, sachkundig, ohne Mätzchen. Und auf der Straße liess er sich genauso ernsthaft auf die Leute ein. Das kam offensichtlich gut an. Auch im eigenen Lager. Die Frauen, die Jungen, die Künstlergemeinde und sogenannt gewöhnliche Leute unterstützten ihn mit unabgesprochenen Aktionen – spontan entstand eine Unterstützungsbewegung. Das war nur möglich, weil der Gewerkschafter, Politiker, Anwalt, Kunstinteressierte und Intellektuelle für den Kanton und seine Heimatstadt viel getan hat. Es ging auch hier um die Sache, um eine kollektive Anstrengung. Rechsteiner war gerade wegen seinem Ernst in den Jahren des Neoliberalismus als trockener Gewerkschaftsapparatschik denunziert worden, als ewiggestriger Linker, der die Zeichen der Zeit angeblich nicht erkannte.
Roger Schawinski bediente diese Klischees im Talk mit Rechsteiner. Man merkte, dass der Medienunternehmer keine Ahnung hatte, wer dieser Politiker ist, woher er kommt. Im Buch von Ralph Hug scheinen all diese Facetten auf. Dass auch Rechsteiner von diesem Wahlkampf und dem Erfolg nicht unbeeinflusst geblieben ist, kommt in einem Gespräch mit dem WOZ-Journalisten Stefan Keller am Ende des Buches zum Ausdruck. Gerade weil sich auch darin fast alles um die Sache dreht, erfährt man hier mehr über den Menschen Rechsteiner als jedes Porträt oder jede Homestory vermöchte. Erfolg macht erfolgreich – zumindest was die Medienaufmerksamkeit betrifft. Plötzlich ist eine 1.Mai-Ansprache des Gewerkschaftsbosses ein Frontthema («Tages-Anzeiger») – und dem «Magazin» das bislang beste Porträt über Rechsteiner. Dort sagt der SVP-Nationalrat Luzi Stamm, Rechsteiner sei der kompetenteste Politiker, den er kenne: «Er ist ein gefährlicher Mann.» Damit die Linke in diesem Sinn gefährlich wird, sollte sie sich von Hugs Buch inspirieren lassen.
Ralph Hug: «Eine andere Wahl ist möglich. Wie Paul Rechsteiner Ständerat wurde», Rotpunktverlag, Zürich 2012, 184 Seiten. 18,50 Euro
Autor: Andreas Fagetti/WoZ