99% und Ehe für Alle
Wenn in Deutschland am 26. September der neue Bundestag gewählt wird, stimmen auch die SchweizerInnen (mal wieder) ab. Auf Bundesebene entscheiden sie über die Einführung der „Ehe für Alle“ und eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften, die vor allem die Reichen treffen und die kleineren und mittleren Einkommen entlasten soll. Prognose unserer Autorin: Die „Ehe für Alle“ wird mit ziemlicher Sicherheit angenommen – die höhere Besteuerung dagegen abgelehnt.
Über die „Ehe für Alle“ – also für die gleichen Rechte und Pflichten im zivilrechtlich regulierten Zusammenleben – muss abgestimmt werden, weil sich politisch Konservative mit streng Gläubigen zusammengetan haben und eine Volksabstimmung über eine Gesetzesänderung erreichten, der das Parlament mit großer Mehrheit zugestimmt hat.
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Die konservativ Religiösen stört, dass das zivilrechtlich regulierte Zusammenleben von Schwulen und Lesben künftig auch „Ehe“ heißen soll. Diese sei biblisch bestimmt und auf heterosexuelle Paare beschränkt. Weil aber klar ist, dass mit dieser Meinung kein Blumentopf zu gewinnen ist – geschweige denn eine Referendums-Abstimmung – hat man sich mit den Rechtsbürgerlichen zusammengetan, die ihre Vorbehalte gegen gleichgeschlechtliche Ehen hinter der Besorgnis um das Wohl von Kindern verstecken.
Weinende Kinder an Laternenmasten
Denn mit der Gleichstellung aller Ehen geht auch das Recht auf künstliche Befruchtung bei Kinderwunsch einher. Und das gefährdet angeblich die Kinder, die mit zwei Müttern statt mit Papa und Mama aufwachsen. Dagegen kommen wissenschaftliche Untersuchungen nicht an, die besagen, Kinder aus solchen Familien seien gegenüber jenen aus heterosexuellen Ehen nicht benachteiligt.
Auch die Tatsache, dass seit Menschengedenken Kinder oft ohne Anwesenheit des Vaters erwachsen werden, spielt da keine Rolle. Deshalb hängen derzeit an Schweizer Laternenmasten Bilder bitterlich weinender Kinder. Aber alles deutet darauf hin, dass die Gesetzesänderung trotzdem angenommen wird.
Fehlender Grenzwert
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Noch sicherer als die Annahme der „Ehe für Alle“ ist die Ablehnung der sogenannten 99%-Initiative der Jungsozialisten (Juso). Diese zielt auf eine höhere Besteuerung von Kapitaleinkünften – also Einkünften, die nicht durch Arbeit erzielt werden. 99 Prozent der SchweizerInnen (daher der Initiativen-Name) sollen davon nicht betroffen werden. Die Initiative ist aber so offen formuliert, dass nicht klar ist, wer denn wirklich betroffen würde.
Die Initianten wollen, dass Einnahmen aus Mieten, Zinsen, Dividenden oder Kursgewinnen, die einen vom Parlament festgelegten Betrag übersteigen, nicht zum tatsächlichen Wert (also 100 Prozent), sondern zu 150 Prozent besteuert werden sollen. Die dadurch erzielten Mehreinnahmen sollen genutzt werden, um die Steuern auf niedrigen und mittleren Einkommen zu senken.
Da aber der Grenzwert, ab dem diese Regelung gelten soll, nicht feststeht, könnten bei einem tiefen Grenzwert – die Initianten reden von 100.000 Franken – in Ausnahmefällen auch mal weniger Reiche mehr Steuern zahlen müssen. Andererseits könnte das Parlament auch den Grenzwert so hoch ansetzen, dass (fast) niemand zahlen müsste.
Lieselotte Schiesser (Bild: Initiative 99%)
Naja, Dennis Riehle, wenn „Ehe“ darüber definiert sein soll, dass „es lediglich der heterosexuelle Verbund ist, der Kinder hervorbringen kann“, was machen wir dann mit kinderlosen heterosexuellen Verheirateten? Zwangsscheidung? Ausserdem gibt es genügend Schwule und Lesben, die Kinder haben und erziehen. Sei es, weil sie mal (heterosexuell) verheiratet waren oder weil sie ohne verheiratet zu sein Kinder bekommen haben. Schwul oder lesbisch sein macht ja weder zeugungs- noch erziehungsunfähig. Wäre dann – Ihrer Definition gemäss – der auf Dauer und gegenseitige Unterstützung ausgelegte Verbund Gleichgeschlechtlicher mit Kindern nun ehe“tauglich oder nicht?
Sollte denn dann der „besondere Schutz dieser ureigenen Variante des menschlichen Bedürfnisses“ nicht eher den zivilrechtlichen Gemeinschaften gelten, die Kinder erziehen, statt ihn auf eine Gruppe mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung zu begrenzen?
Im Übrigen betrifft die Ehe für Alle – genau wie die bisherige Ehe – ausschliesslich den zivilrechtlichen Begriff. Die Glaubensgemeinschaften können damit machen, was sie wollen. Es zwingt niemand die katholische, evangelische, islamische, jüdische, hinduistischer oder buddhistische etc. Glaubensgemeinschaft, ihren Ehebegriff auszuweiten.
P.S. Da es in der Schweiz kein Verfassungsgericht gibt, wird das Bundesgericht keine Entscheidung in dieser Frage fällen. Es hat dazu keine Befugnis. Die Entscheidung fällen die Stimmberechtigten mit Annahme oder Ablehnung der Gesetzesvorlage.
Ich gebe zu, dass ich als Homosexueller selbst lange Zeit gegen die „Ehe für Alle“ eingestanden bin. Und ich muss auch heute noch feststellen, dass ich dem Gedanken nicht abgeneigt bin, wonach die Begrifflichkeit der Ehe einer heterosexuellen Beziehung vorbehalten bleiben soll.
Unsere Väter der Verfassung gingen bei der Niederschrift des Grundgesetzes davon aus, dass unter einer Ehe das Miteinander von Mann und Frau zu verstehen sei. Ich meine, dies geschah nicht allein unter dem Gesichtspunkt, dass das gleichgeschlechtliche Zusammenleben damals noch nicht „hoffähig“ war. Viel eher stand die Definition der Ehe unter dem Aspekt, dass es lediglich der heterosexuelle Verbund ist, der Kinder hervorbringen kann.
Zweifelsohne muss sich aber auch ein solcher Rahmen, der die Wesenszüge unseres Staates zu beschreiben vermag, den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen. Es ist unbestritten, dass wir heute ein gleichwertiges Nebeneinander von Partnerschaften unterschiedlichster Zusammensetzung als zeitgemäß ansehen – und es nicht nur tolerieren und akzeptieren, sondern als selbstverständlich begrüßen.
Daher sollte in der Schweiz wie in Deutschland zurecht darauf abgezielt werden, letztlich auch durch die obersten Gerichte eine Entscheidung herbeizuführen, ob die Öffnung des einst geschützten Ehebegriffs im Sinne der konstitutionellen Fortentwicklung ist. Dass wir in der Bundesrepublik bereits einen Schritt weiter sind, kann die grundsätzliche Diskussion über die „Ehe für Alle“ nicht obsolet machen.
Denn auch ihre rechtliche Anerkennung durch den Gesetzgeber kann der Öffentlichkeit keine Meinung aufoktroyieren. Wenngleich ich überzeugt bin, dass eine Mehrheit der Bevölkerung bei den Eidgenossen wie bei uns eine Übertragung des Eheverständnisses in die heutige Zeit befürwortet, darf diese Majorität denjenigen, die aus argumentativem Antrieb eine Bewahrung von Ehelichkeit zwischen Mann und Frau einfordern, nicht einfach niederbügeln. Auch für mich besitzt der Zusammenschluss zwei Verschiedengeschlechtlicher nicht nur aus kulturellen, evolutionären oder sexuellen Gründen einen Mehrwert, durch den aber keinesfalls eine Nachrangigkeit anderer Lebensformen ausgedrückt wird.
Wer eine Definition der Ehe für bestimmte Beziehungen vorbehält, benachteiligt nicht gleichzeitig alle anderen Bindungskonstrukte. Dass weiterhin die Zahl der heterosexuellen Partnerschaften weit vorne liegt, macht homosexuelle nicht „unnormal“. Vielmehr sagt die Adelung des heterosexuellen Zusammenlebens zur Ehe lediglich aus, dass sie eine von Natur aus gegebene Ergänzung darstellt, die es als einzige schafft, den Fortbestand des Menschen zu sichern. Hierdurch wird keinesfalls eine Bewertung der Qualität vom Miteinander zweier Personen abgegeben.
Stattdessen drückt die Fokussierung des Ehebegriffs auf Mann und Frau nur aus, dass es aus dargelegten Beweggründen eines besonderen Schutzes dieser ureigenen Variante des menschlichen Bündnisses bedarf, die allen anderen Lebensweisen aber keines der für uns alle geltenden Grundrechte abspricht. Letztlich bleibt von dieser Debatte aber ohnehin eine Tatsache völlig unberührt: Liebe ist grenzenlos – egal, zwischen wem…