Abschied von Andrea Bianchi

seemoz-Andrea-BianchiRechtsanwalt und Bergführer Andrea Bianchi (1953–2015) war eine Säule des linken Graubünden. Kurz vor Jahreswechsel ist er beim Eisklettern abgestürzt und gestorben. Bianchi prägte über Jahrzehnte hinweg das politische Geschehen in seiner Heimat. Er hat viel bewegt, und sein allzu früher Tod ist ein herber Verlust für die ganze Region. Unser Autor erinnert in seinem Nachruf an einen engagierten Politaktivisten und Umweltschützer.

Als ich im April 2014 Andrea Bianchi in Malix im Kanton Graubünden besuchte, stand vor mir ein topfitter Ü-Sechziger. Drahtig und kein Gramm zu viel am Körper. Wenig später beugten wir uns in der Stube über Bergkarten. Bianchi erläuterte mir die „Stella retica“. Das heißt auf Romanisch „Edelweiss“, gemeint war aber eine neue Route über den Pizzo Badile, jene berühmte 3305 m hohe Granitnadel im Bergell, die jährlich BergsteigerInnen aus aller Welt anzieht. Bianchi hatte diese Route über die Südostwand eröffnet: elf Seillängen mit 400 m Höhendifferenz über kompakten Granit, Schwierigkeitsgrad 6.

Bianchi zählte zu den Könnern im Bergsport. Mit 61 Jahren schaffte er immer noch den neunten Grad. Schon mit 16 kletterte er am Piz Badile. In den letzten Jahrzehnten war er mindestens zweimal pro Sommer auf dem Gipfel. Es war sein Hausberg. Mehrere Routen-Erstbegehungen gehen auf sein Konto. Am meisten freute er sich, wenn sein Sohn Carlo mit von der Partie war, ein 13jähriger Bub. Der wohl Jüngste, der je am Piz Badile kletterte.

Die Bergwelt war Andrea Bianchis wahre Leidenschaft. Als er 2007 für die SP (Sozialdemokratische Partei) für den Nationalrat kandidierte, brach er mit dem Davoser Bergführer Walter von Ballmoos zu einer Tour um den Piz Badile auf und umrundete ihn in der Rekordzeit von 7 Stunden und 24 Minuten. Es ging ihm dabei nicht ums Tempo, sondern um den Alpenschutz. Bianchi war ökologisch engagiert, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Als Rechtsanwalt vertrat er oftmals Umweltorganisationen vor Gericht. Ein Verfahren machte überregional Schlagzeilen, als er den Nachbarn der Ferienresidenz von Tennisstar Roger Federer in der Lenzerheide verteidigte und diesen Streit um einen zu geringen Grenzabstand auch gewann.

Seit er als Jugendlicher in Chur zu politisieren begonnen hatte, war Andrea Bianchi eine Säule des linken Graubünden. „Wir bewunderten stets seine Hartnäckigkeit“, sagt ein Weggefährte. 1973 war es, als Bianchi zum Viva-Kollektiv stieß. Das „Viva“ war eine jener Linkspostillen im Berggebiet, wie die „Rote Annliese“ im Wallis oder die „Alternative“ in Uri, die nur dank dem Totaleinsatz ihrer MacherInnen die Jahre überdauerten. Die Redaktion befand sich in einer WG in Chur. Man prangerte den Lokalfilz an, kritisierte das Militär, wollte den Rhein vor der Nationalstraße 13 retten und schoss sich auf Werner Oswald ein, den reaktionären Besitzer der Ems-Chemie.

Im Jahr 1972 ging Bianchi in Chur zur Schule. Fünf Wochen lang besorgte ein Stellvertreter aus Paris den Geschichtsunterricht. Sein Name: Niklaus Meienberg. Er empfahl den Eleven, die Geschichtsbücher wegzulegen und selber zu denken. Bianchi war tief beeindruckt. Linke Kritik an den Verhältnissen wurde fortan auch sein Programm. Das Viva-Kollektiv hielt bis 1988 durch. Anfangs war es eines jener vielen trotzkistisch inspirierten Grüppchen, die Ernest Mandel lasen, Rudi Dutschke nacheiferten und das lokale Politestablishment aufmischten. „Ich war damals revolutionärer Marxist und voller Idealismus“, blickte Bianchi vor einigen Jahren in einem Interview auf seine Politanfänge zurück. Ein Foto aus jener Zeit zeigt ihn beim Referat am Mikrofon. Mit feschem Schnauz, Prolo-Schiebermütze und Halstuch.

Bianchi verleugnete seine 68er-Vergangenheit nie. Er war im Gegenteil stolz auf sie. Als Vertreter der „Linken Alternative“ kam er 1981 in den Churer Gemeinderat und 1991 in den Grossen Rat. Dem einstigen Linksradikalen hat Chur unter anderem das Jugendhaus zu verdanken. Es war die Folge seines ersten Vorstoßes im Stadtparlament. Noch heute üben dort Bands im Keller. Der harte Bündner Politboden war nur mit viel Ausdauer zu beackern. Bianchi war dafür genau der richtige Mann. Nie verließ er Chur. Im Beruf als Rechtsanwalt stand er auf der Seite der Schwachen. Ein echter Volksanwalt, stets für alle da. Asylsuchende, Junkies und Menschen mit beschädigter Biografie fanden bei ihm Hilfe. Auch wenn sie kein Geld hatten.

Am 28. November war Bianchi beim Weiler Campsut im Averstal am Eisklettern. Was dann passierte, ist bis heute ungeklärt. Ein Anwohner fand den 62-Jährigen tags darauf tot im Seil. Fast auf den Tag genau vor fünfzig Jahren war Bianchis Vater Rico am Tinzenhorn zu Tode gekommen. Bianchi war damals zwölf Jahre alt. Eine fast unheimliche Koinzidenz. Am letzten Wochenende entzündeten Bergsportfreunde in Malix zu seinen Ehren ein Abschiedsfeuer. Seine FreundInnen nahmen vom unermüdlichen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und eine intakte Natur am 28. Dezember in Chur Abschied.

Ralph Hug