Alle wissen, was sie nicht wollen

In der Schweizer Politik geht es derzeit ähnlich zu wie noch letzten Herbst im britischen Unterhaus, als es um den Brexit ging: Alle wissen, was sie nicht wollen – aber es gibt auch keine Mehrheit für eine Alternative. In noch einem weiteren Punkt ähneln sich die Debatten: Es geht um Verhandlungen mit der EU. In der Schweiz geht es logischerweise nicht um den Austritt aus selbiger, sondern um einen „Rahmenvertrag“. Was hat es damit auf sich?

Der Vertrag soll einen „Rahmen“ um fünf bestehende bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU bilden. Zweck des Rahmens sollte es sein, einheitliche Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung dieser Verträge und einen „Boden“ für zusätzliche Verträge zu schaffen. Derzeit sieht es aber nicht so aus, als ob dieser Rahmenvertrag von der Schweiz unterschrieben würde. Allerdings weiß auch niemand, wie es dann im Verhältnis mit der EU weitergehen soll. Denn Letztere will ohne Rahmenvertrag weder die bestehenden Verträge ändern noch neue Verträge schließen.

Ja, Nein, Vielleicht

Die Industrieverbände wollen den Vertrag, die Gewerkschaften und der Gewerbeverband wollen ihn nicht. Die SVP (und alle noch weiter rechts) wollte noch nie etwas, was mit der EU zu tun hat, also will sie auch den Rahmenvertrag nicht. Die FDP will ihn (noch) mehrheitlich, aber nicht einstimmig, die CVP – die inzwischen „die Mitte“ heißt – will nie etwas einstimmig, lehnt aber auch selten etwas einstimmig ab. Die SP Schweiz wiederum hat sich in eine merkwürdige Position manövriert: Der Parteivorstand lehnt ab, die Basis will den Vertrag aber mehrheitlich. Und jeden Tag treibt ein anderer Verband eine neue Sau durchs politische Dorf – mehrheitliche Meinung: „Den Vertrag, wie er vorliegt, wollen wir nicht. Die EU muss … in den Vertrag schreiben.“ (Die Pünktchen bitte selbst durch eigene Wünsche ersetzen.)

Das „muss“ die EU, weil die Schweiz wirtschaftlich so wichtig sei: Etwa 12% der EU-Importe kommen aus der Schweiz und etwa 10% der EU-Exporte gehen in die Schweiz – für die Schweiz bedeutet das, dass über 50% ihrer Exporte in die EU gehen und über 66% ihrer Importe aus der EU kommen. Es kann sich jedeR selbst ausrechnen, wen der beiden Beteiligten ein Wegfall stärker treffen würde. Oder die EU „muss“ die Bedingungen der Schweiz akzeptieren, weil die Schweiz jeweils innerhalb von zehn Jahren eine Milliarde Euro an Projekte eigener Wahl an einen EU-Oststaat zahlt („Kohäsions-Milliarde“). Allerdings hat sie die entsprechenden Zahlungen seit Jahren nicht mehr geleistet.

Bilaterale Verträge statt EWR

Anfang der 90er Jahre lehnten die SchweizerInnen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ganz knapp ab. Danach erarbeiteten die Schweiz und die EU bilaterale Verträge, die der Schweiz einen weitgehend hindernisfreien Zugang zum EU-Wirtschaftsraum gewähren (die Schweiz gehört aber nach wie vor nicht zur EU-Zollunion). Die Schweiz akzeptierte dafür die EU-Personenfreizügigkeit (für ArbeitnehmerInnen) und baute sogenannte „flankierende Maßnahmen“ auf, um die Arbeitnehmenden vor Lohndumping durch entsandte ArbeitnehmerInnen aus EU-Ländern – und damit das heimische Gewerbe vor Billiganbietern – zu schützen. Seither haben die SchweizerInnen diesen Verträgen mehrfach in Volksabstimmungen zugestimmt bzw. Angriffe darauf abgelehnt.

2005 regte der damalige Thurgauer CVP-Ständerat (Kantonsvertreter in der zweiten Parlamentskammer) an, die Verträge unter einem gemeinsamen Dach, einem „Rahmenvertrag“ zu vereinen – vor allem, um eine möglichst einfache Weiterentwicklung und Anpassung der Verträge zu ermöglichen. Die Idee traf bei der Regierung auf Gegenliebe und sie deponierte ihren Wunsch bei der EU. Die fand die Idee zunächst nicht so prickelnd, kam aber Jahre später doch darauf zurück.

Mutlos nach 7 Jahren

Daraufhin verhandelten beide Seiten rund sieben Jahre lang miteinander, bis ein Vertragstext vorlag, der sowohl der EU als auch der Schweizer Regierung akzeptabel schien. Weil schon während der Verhandlungen die Diskussionswogen in der Schweiz teilweise hoch gingen, verließ die Regierung vor den Nationalratswahlen 2019 der Mut: Sie legte den Vertrag deshalb nicht dem Parlament vor, sondern schickte den bereits ausgehandelten Vertrag in die Vernehmlassung. So heißt das Verfahren, bei dem Parteien, Verbände etc. normalerweise zu einem Gesetzesentwurf Stellung nehmen können, bevor eine endgültige Fassung erarbeitet und dem Parlament vorgelegt wird. Für bereits ausgehandelte internationale Verträge ein Novum.

Schon als die Verhandlungen noch liefen, begannen die Gewerkschaften, „rote Linien“ zu ziehen, die nicht überschritten werden dürften. Gemeint war damit, die „flankierenden Maßnahmen“ müssten erhalten bleiben. Zu diesen gehört auch, dass sich EU-Unternehmen acht Tage, bevor sie einen Auftrag in der Schweiz ausführen, bei den Schweizer Behörden anmelden müssen, um diesen Kontrollen zu ermöglichen. Zudem müssen sie vor dem ersten Auftrag eine Kaution hinterlegen. Die EU wollte zuerst diese Frist völlig abschaffen – sehr zur Freude süddeutscher Betriebe – dann einigte man sich aber auf eine Frist von vier Tagen. Die Schweizer Regierung fand das akzeptabel und stimmte zu. Die GegnerInnen sind weiterhin entrüstet.

Die übrigen Schutzmaßnahmen der „flankierenden Maßnahmen“ entsprechen den Regelungen der EU-Entsenderichtlinie 2018: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Ob diese Vorschriften eingehalten werden, darf kontrolliert werden. Die EU hat der Schweiz im Februar und März 2021 (laut CH-Medien) zudem angeboten, das Prinzip des „gleichen Lohns für gleiche Arbeit“ ausdrücklich im Vertrag festzuhalten und anzuerkennen, dass die Schweiz zusätzliche Schutzmaßnahmen ergreifen könne, falls diese „gerechtfertigt, verhältnismässig und nicht diskriminierend“ seien. Die EU sei auch offen für die Beibehaltung der Anmeldefrist und die Kautionszahlung gewesen, so eidgenössische Medien. Die Schweiz sei auf das Angebot nicht eingetreten, habe aber auch selbst keinen formulierten Vorschlag vorgelegt.

Der EuGH als Hut auf der Stange

Außerdem sollten Vertragsverletzungen der Partner geahndet werden können. Die EU schlug dafür den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor, was in der Schweiz etwa so ankam, als ob die Habsburger wieder einen Hut auf einer Stange am Vierwaldstätter See aufpflanzen wollten. Heraus kam schließlich ein paritätisch besetztes Schiedsgericht – erst wenn dieses sich bezüglich EU-Recht nicht einigen kann, muss es den EuGH fragen. Dessen Auslegung muss dann in die Schiedsgerichts-Entscheidung einfließen. Das ist vielen in der Schweiz immer noch zu viel „Hut auf der Stange“. Man lasse sich nicht „vogten“. Wie Vertragskonflikte dann gelöst werden sollen, bleibt offen.

Und dann kam etwas ins Spiel, was gar nicht im Vertrag steht: Die Unionsbürger-Richtlinie. Diese werde einen sofortigen Massenzuzug von EU-Bürgern ins Schweizer Sozialsystem bringen, erklären die Vertragsgegner. Nun steht – wie gesagt – von dieser Richtlinie kein Wort im Vertrag. Und wenn sie drin stünde, könnten EU-BürgerInnen mitnichten in die Schweiz einwandern, um sofort Sozialhilfe zu beziehen. Der EuGH hat EU-Mitgliedern in zwei Urteilen von 2009 und 2016 zugestanden, dass sie Schutzmaßnahmen anordnen können, um eine solche Zuwanderung zumindest sehr zu erschweren. Deutschland z.B. tut das sehr nachhaltig. Die Schweiz dürfte das ebenso. Die wirtschaftsnahe Denkfabrik „avenirsuisse“ hat errechnet, dass eine solche Zuwanderung die Schweiz jährlich maximal 75 Mio. Franken kosten würde. Heute kostet die Sozialhilfe in der Schweiz jährlich etwa 8,4 Milliarden Franken.

Alles in allem: Der Vertrag steht kurz davor, im Papierkorb versenkt zu werden.

Lieselotte Schiesser (Bild: jorono auf Pixabay)

Links für alle, die’s genau wissen wollen: Der Vertragstext; die Entsenderichtlinie; die „flankierenden Maßnahmen“.