Als die Schweizer Armee auf DemonstrantInnen schoss

Im Alter von 102 Jahren starb vor kurzem  Willy Roth, der wohl letzte noch lebende Augenzeuge der «Genfer Ereignisse» von 1932, als die Schweizer Armee auf DemonstrantInnen schoss. Es gab 13 Tote und gegen 100 Verletzte – die Schandtat ist auch heute noch nicht vergessen, wie ein kürzlich erschienenes Buch zeigt. Unser Autor Ralph Hug hatte den auch mit 96 Jahren noch fitten Willy Roth vor sechs Jahren interviewt

Willy Roth kam als Achtzehnjähriger nach Genf, weil er dort eine Stelle als Feinmechaniker fand. Aufgewachsen ist er auf einem Bauernhof in St.Gallen, wo er die Primar- und Realschule absolvierte. 47 Jahre lang blieb er der Firma Société d‘instruments physiques (SIP) als Arbeiter treu. «Eigentlich wollte ich nur ein Jahr in Genf bleiben und dann nach Paris zu Hispano-Suiza, weil man dort den Pilotenschein ohne Technikumsabschluss machen konnte», erzählte er.

Dann kam der berüchtigte Mittwoch, 9. November1932. Die Armee schoss auf eine antifaschistische Demonstration. Es gab 13 Tote und gegen hundert Verletzte. Der Anlass war eine Provokation der faschistischen «Union nationale» von Georges «Geo» Oltramare. Unter dem Titel «Procès public des sieurs Nicole et Dicker» wollten die Faschisten den beiden Linkspolitikern Léon Nicole und Jacques Dicker den öffentlichen Prozess machen. Das mobilisierte die Linke zur Gegendemo. 5000 bis 8000 Leute marschierten durch Genf. Der Staatsrat bot die Armee auf – mit Schießbefehl.

In die Luft zu zielen ist verboten

Der Historiker Jean Batou hat die Vorfälle im historischen Kontext in einem lesenswerten, neuen Buch rekonstruiert. Dabei entlarvt er den Mythos, die aufgebotenen Soldaten hätten aus reiner Nervosität gehandelt. Vielmehr wurden sie befehlsgemäß zum Feuern angehalten. Die Order lautete: «In die Luft zu zielen ist verboten.» Der Befehl geht auf reaktionäre Offiziere zurück, die mit politischer Rückendeckung aus Bern vorgingen.

Wie hat das Willy Roth erlebt? «Wir sind in der Rue Carouge als große Masse vorgerückt. Natürlich wollten wir in den Saal zur Veranstaltung. Doch davor standen Polizisten, die den Eingang mit einem Seil abriegelten. Sie sagten uns, wir könnten nicht rein, sonst gäbe es den größten Krawall.» Nur gerade zehn Personen sollten eingelassen werden. Darunter war Willy Roth. Im Saal drinnen waren ihm und seinen Kollegen jedoch die Hände gebunden. «Wir konnten nichts machen, die hätten uns sofort zusammengeschlagen. Aber wir blieben bis zum Ende.»

Demonstrationen gegen den aufblühenden Faschismus

Als sie den Saal wieder verließen, war die «fusillade» schon vorbei. «Wir merkten nichts von den Vorfällen, das Militär hatte sich verzogen. Es lagen nur an einigen Orten Stahlhelme mit Beulen am Boden herum.» Weil nichts mehr los war, kehrten Willy Roth und seine Kumpels nach Hause zurück. «Die Faschisten waren gegen Léon Nicole. Das war ganz scharf damals», erinnerte er sich an das konfrontative Klima jener Jahre. Roth hatte an etlichen Demonstrationen gegen den aufblühenden Faschismus teilgenommen. «Da kamen nicht nur Parteikollegen, sondern auch viel einfaches Volk. Wir riefen jeweils <Vive Nicole, Geo au poteau!>. Es lebe Nicole, Geo an den Galgen!»

Willy Roth war damals «ganz links», wie er sagte. Erst später aber trat er der Kommunistischen Partei bei. Wie so viele schwärmte er für das fortschrittliche Russland. Seine Mutter soll die Hände gerungen haben, als sie das vernahm. Nach Moskau kam er jedoch nie. Für den charismatischen Nicole wäre er «durchs Feuer gegangen». Der linke Volkstribun war das Idol der engagierten Jugend. Er konnte die Massen elektrisieren. In den 30iger Jahren war er der im Bürgertum wohl am meisten gehasste Sozialist in der ganzen Schweiz.

Als Gewerkschafter und Mitglied der Partei der Arbeit hatte Willy Roth in Genf keine Schwierigkeiten, obwohl er als Einzieher von Parteibeiträgen am Arbeitsplatz den blauen Brief riskierte. Doch er war ein gewissenhafter Arbeiter. Die SIP, in der er angestellt war, stellte Kopien des Ur-Meters in Paris her. Masse und Legierung mussten auf den Millimeter stimmen. Nach dem Ungarn-Aufstand 1956 hatte er genug von seiner Partei und trat aus. Ein Linker blieb er aber zeit seines Lebens.

Als ich Willy Roth im Jahr 2007 interviewte, war er 96 Jahre alt und physisch unglaublich fit. Bei den Naturfreunden hatte er Bergsteigen gelernt und später viele Gipfel bestiegen, insbesondere im nahen Montblanc-Gebiet. Er absolvierte Bergläufe, fuhr Ski, nahm mit 90 noch am Engadiner Skimarathon teil («Ich war immer der schnellste in meiner Altersklasse») und fuhr täglich 30 Kilometer mit dem Velo. Auch im Auto ließ er sich nicht lumpen: Die Kurven zu seinem Wohnort St-George im Waadtländer Jura fuhr er in halsbrecherischem Tempo hoch.

Willy Roth blieb ständig in Bewegung, bis sein Herz am 5. Juni 2013 aufhörte zu schlagen. Seine Asche wurde seinem letzten Wunsch gemäß auf einer Kuppe mit Blick aufs Montblanc-Massiv verstreut.

Autor: Ralph Hug/WOZ

Jean Batou: «Quand l’esprit de Genève s’embrase. Au-delà de la fusillade du 9 novembre 1932». Éditions d’en bas. Lausanne 2012. 560 Seiten. 34 Franken.