Asylsuchende in Kreuzlingen: „Wir sind keine Kriminellen“
Fast unscheinbar in der Kreuzlinger Bahnhofstraße befindet sich seit 15 Jahren das Café Agathu. Es will an fünf Nachmittagen in der Woche Asylsuchenden die Möglichkeit bieten, sich frei von Kontrollzwang und dem Dasein als Nummer zu bewegen. 60 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer betreuen abwechselnd das Café. Und der Andrang ist riesig: Die 70 Sitzplätze werden ausgiebig genutzt. seemoz sprach mit der Leiterin Dominique Knüsel sowie mit Betroffenen
Man flieht nicht einfach so mit oder ohne Familie. Man lässt nicht einfach so einen beträchtlichen Teil seines Lebens zurück. Das, was den zumindest latenten Rassisten einer Wohlstandsgesellschaft nicht klar zu sein scheint, sticht einem ins Auge, wenn man sich mit Asylbewerberinnen selbst unterhält.
Als ich klargemacht habe, für welches Medium ich recherchiere, stellen mich die Helferinnen des Café Agathu (für: Arbeitsgruppe für Asylsuchende Thurgau) einer sechsköpfigen Gruppe von Menschen aus dem Kosovo vor. Sie sind zwischen 16 und 32 Jahre alt. Um einen positiven Asylbescheid in der Schweiz sieht es für sie, ähnlich wie in Deutschland, meistens schlecht aus. Helferin Elvira bringt es auf den Punkt: „Das Problem ist, dass der Kosovo als Safe Country gilt.“ Doch dieses Bild ist verzerrt. Allein ca. 80 Asylbewerber aus dem Kosovo leben derzeit in Kreuzlingen, die mehrheitlich dem „Empfangszentrum“ Kreuzlingen des Schweizer Bundesamtes für Migration (BFM) zugewiesen sind. Dort leben derzeit fast 300 Asylbewerber.
„Ich musste mein Studium kurz vor Schluss abbrechen…“
Fidan (31) war früher selbst Soldat – allerdings kein freiwilliger, erzählt er. Er übersetzt für die anderen, hat schon sechs Jahre in Deutschland gelebt, hat dort (deutsche) Frau und Kinder zurücklassen müssen, weil sein Asylantrag negativ ausfiel. Er will, dass seine Geschichte erzählt wird. Die Angst der anderen ist groß, sie schweigen sich über ihre Namen aus, wollen auch auf unserem Foto nicht erkannt werden.
Von einer 27 Jahre jungen Frau übersetzt Fidan, dass sie ihr Bio-Chemie-Studium kurz vor Ende abbrechen musste, um zu flüchten. Ähnliches hört man auch von den anderen am Tisch. Man lässt eben nicht einfach so einen beträchtlichen Teil seines Lebens zurück. Mafiöse Zustände und vielfach Erpressung zwingen die meisten AsylbewerberInnen aus dem Kosovo, ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Bio-Chemie-Studentin, übersetzt Fidan weiter, wollte nur irgendwo hin, wo sie das Glück hat, nicht jeden Tag das Gefühl zu haben, dass „mir irgendjemand eine Knarre an den Kopf hält.“
Betroffenheit um Lampedusa, Rassismus in Mitteleuropa
Unterdessen ist aktuell die italienische Insel Lampedusa in aller Munde. Über 300 tote Ertrunkene zählt man dieser Tage, 20.000 in den vergangenen 20 Jahren, die Flüchtlingsschiffe sinken fast im Tagestakt „Das ist für mich nichts Neues“, sagt Café-Leiterin Dominique Knüsel und mahnt: „Das erlebe ich seit Jahren. Da kommen und da sterben Menschen. Die Grenzkontrollen zu verschärfen, davon halte ich nichts, die Leute kommen dann einfach über Sinai, und diese Route ist noch schwieriger, noch gefährlicher.“
Für sie ist es ein Armutskreislauf, der die Menschen dazu antreibt, in die Festung Europa gelangen zu wollen: „Das sind schier unlösbare Probleme, aber die gehen uns auch hier in der Schweiz alle an. Das wird immer so sein, solange sich Menschen auf Kosten anderer Menschen bereichern. Und für die Asylbewerber ist es auch nicht gut: Das dauert Jahre, bis sie hier Fuß fassen, es ist für sie ein Hin und Her zwischen Hoffnung, Angst und teilweise dem Trauma, was sie erlebt haben. Gleichzeitig nimmt die Fremdenfeindlichkeit zu.“
Projekte gegen Rassismus – gemeinsam mit Kreuzlinger Schulen
Auf die Schweizer Ausländergesetze angesprochen, die sich zuletzt im Sommer änderten, unterstreicht Knüsel: „Es geht bei diesen Änderungen immer nur um Verschärfungen.“ Nicht zuletzt wegen dieser gesellschaftlichen wie politischen Entwicklungen plant man im Agathu derzeit Projekte gegen Rassismus – gemeinsam mit Kreuzlinger Schulen.
„Die Unterbringung ist das nächste Problem. Teilweise gibt es abgeschottet auf irgendeinem Berg Durchgangsheime, in denen die Leute auf ihre Kantonszuweisung oder eine Ausschaffung warten. Was sollen die Menschen da?“, beschwert sich Knüsel: „Und die Lage wird oftmals dadurch erschwert, dass jeder Kanton die materiellen und sozialen Leistungen anders handhabt.“
Man muss nicht lange suchen, um sich einen Eindruck vom „Leben“ in den Heimen, den sogenannten Empfangszentren, zu verschaffen. Das Gelände des Empfangszentrums Basel ist zum Beispiel mit Stacheldraht umzäunt. Fidan, der die kargen Heimzustände schon öfter erlebt hat, bekräftigt: „Bitte, was soll das? Das ist oftmals wie ein Leben im Knast. Aber wir sind doch keine Kriminellen. Wir sind auch nur Menschen, die eine Chance wollen. Konstanz und Kreuzlingen sind für andere Menschen wie eine Stadt. Für uns ist es das jedoch nicht, weil wir uns nicht so frei bewegen dürfen.“
Hilfestellung so gut es geht
Im Obergeschoss das angegliederte Internetcafé mit sechs Rechnern. Die ETH Winterthur spendete die Ausrüstung, die die meisten für Facebook, Skype und e-Mails nutzen: „Wir haben die Rechnerzeit auf eine halbe Stunde pro Nutzer und Tag begrenzt und nehmen dafür einen Schweizer Franken als symbolischen Betrag, um den Andrang zu begrenzen und damit wirklich nur die an die Rechner gehen, die müssen.“
Daneben befinden sich Räumlichkeiten der Rechtsberatung für die Asylbewerberinnen, welche mit dem Agathu kooperiert: „Wir finanzieren uns ausschließlich über Spenden und leben von der Arbeit der Freiwilligen“, erklärt Knüsel: „Neben der Vermittlungsarbeit, die wir leisten können, merken wir, dass die Leute froh sind um Tee, Kaffee und warme Worte und dass man ihnen zuhört.“ Hin und wieder gäben auch einige der Freiwilligen Deutschnachhilfe außerhalb des Cafés. Und das ist bei dem Schweizer Beamtendeutsch auch bitter nötig. Selbst ich – im Studium Sprachwissenschaftler – muss überlegen, wie das auf dem Busticket gemeint ist, als ich für jemanden herausfinden soll, wie lange das Ticket noch gültig ist.
Vor allem Kinder haben es schwer
Oftmals sind alle Ersparnisse der Flüchtlinge für die Reise nach Europa investiert worden. „Und dann kommen Familien ohne Arbeitserlaubnis zu dir, die Angst davor haben, dass der Winter vor der Tür steht, und man kann selber nicht viel machen“, so Knüsel. Von praktisch überall kämen Leute: Eritrea, Somalia, Nigeria, dem Balkan, Westakrika, Afghanistan, Tunesien, Ägypten, Tibet. Aus Marokko seien es vor allem Wirtschaftsflüchtlinge. Menschen aus Syrien bekommen im Moment in der Regel einen Aufenthaltsstatus.
„Vor allem für die Kinder ist es schwer“, erfahre ich noch von Fidan. Für die Erwachsenen sei es das zwar auch, aber die schlügen sich schon irgendwie durch. Mit seinen einfachen Worten macht er trotz allem ausdrücklich klar, dass vor allem Europa sich und sein Menschenbild ändern müsse. Warum er weitermacht? „Wegen der Hoffnung, irgendwann meine Kinder wiederzusehen.“
Autor: ryf