Bitte, seid’s so lieb und macht’s das noch mal …
Wenn in Kubrick’s Kultfilm „Clockwork Orange“ eine bestimmte Passage aus Beethovens Neunter Sinfonie gespielt wird, steht ein Dirigent am Pult, der etliche Jahre in Ermatingen wohnte und dort auch begraben ist: Der legendäre ungarische Maestro Ferenc Fricsay, ein bis heute stilprägender Musiker der Nachkriegszeit, der lange als der Berliner Antipode Karajans galt. Eine Erinnerung an ihn zu seinem 100. Geburtstag am 9. August
Fährt man auf der Hauptstraße durch Ermatingen in Richtung Berlingen, versperrt sich das vorletzte, ein wenig protzige Haus rechter Hand den neugierigen Blicken durch eine Einfahrt, an der „Villa Fricsay“ steht und mit einer Inschrift an den Dirigenten erinnert wird. „Ich sage es mit Freude, denn wir sind restlos glücklich und zufrieden. Wir haben unser Heim in einer himmlischen Gegend gefunden. Dort wollen wir alt werden,“ schrieb Fricsay in den Fünfzigern nach dem Erwerb des Hauses. Wie wahr – und doch wie falsch, denn Fricsay starb bereits im Februar 1963, 48 Jahre jung, an Krebs.
Dieser Spät-Ermatinger war einer der bedeutenden und sympathischsten Dirigenten der ersten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg und ist auch heute noch auf dem CD-Markt bestens vertreten. Das kommt nicht von ungefähr, denn er war nicht nur ein begnadeter Musiker, sondern immer auch an technischen Entwicklungen interessiert: Er hat etwa die ersten deutschen Stereo-Aufnahmen sowohl für den Rundfunk als auch für die Schallplatte eingespielt und bereits Fernsehaufnahmen gemacht, als andere Musiker dieses Medium noch als vulgär ablehnten, sein Schaffen ist also relativ gut dokumentiert, und gerade dieser Tage erschien eine Box mit 45 seiner CDs. Fricsay wird also auch 50 Jahre nach seinem Tode noch gehört (und gekauft).
Familientradition
Fährt man durch Mitteldeutschland, ist es schwierig, einen Marktflecken zu finden, in dem nicht irgendwann zwischen 1550 und 1800 ein Angehöriger der Familie Bach als Stadt- oder Kirchenmusiker tätig war; die ganze Familie Bach bestand über Jahrhunderte fast ausschließlich aus Musikern, und jede Generation gab ihr Handwerk direkt an die nächste weiter oder schickte den Nachwuchs zumindest in die Musikerlehre.
Nicht viel anders hielt man es im Hause Fricsay. Sein Großvater war Geiger, der unter anderem unter Antonín Dvořák spielte, sein Vater war ein führender Militärmusiker Ungarns, der einmal pro Woche in einer eigenen Rundfunksendung dirigierte. „In unserem Hause war von früh bis spät von Musik die Rede. Gewiss wollte ich auch Fußball spielen, ich wollte auch Tennis spielen, aber ich wollte immer Dirigent werden.“
In dieser Umgebung erhielt Ferenc Fricsay eine Ausbildung, die man sich heute kaum vorstellen kann: Er begann mit sechs Jahren mit dem Klavierunterricht und lernte in den nächsten Jahren zusätzlich auch Geige, Klarinette, Ventilposaune und Schlagzeug spielen, er kannte also alle wesentlichen Orchestergruppen aus eigener langjähriger Praxis – und konnte mit den Musikeleven seines Vaters (Jungen ab 12 Jahren also, die eine Ausbildung als Militärmusiker machten) auch schon früh eigene Erfahrungen als Dirigent sammeln. Bereits mit 14, noch als Mittelschüler, begann er an der Budapester Musikakademie Komposition zu studieren, wo in jener Zeit Koryphäen wie Bela Bartók, Zoltán Kodály, Leó Weiner und Ernst von Dohnányi lehrten.
Schon mit 19 schloss er sein Studium ab und wurde 1933/34 in Szeged Militärkapellmeister und gleichzeitig Dirigent der dortigen Philharmonie. Seine Weltkarriere begann dann direkt nach dem Zweiten Weltkrieg an der Volksoper in Wien und bei den Salzburger Festspielen, und er wurde ein international ebenso gefeierter Opern- wie Konzertdirigent.
Der Trainer
Ein Dirigent ist in einer ähnlichen Situation wie ein Fußballtrainer: Was später im Spiel (dem Konzert) passiert, ist davon abhängig, wie der Trainer die Woche über trainieren lässt und welche Spielzüge er mit seinen Jungs einstudiert hat. (Ganz fremd war Ferenc Fricsay übrigens auch die Welt des Fußballs nicht, denn er nahm in den 30er Jahren „an dem jährlich veranstalteten Fußballmatch ‚Theater gegen Journalisten’ teil. Als Mittelstürmer der Theatermannschaft gewann er mit seinen wundervollen Kopfballgoals den Sieg über die Journalisten,“ so ein Jugendfreund.)
Fricsay scheint in den Proben mit den Orchestern keinen tyrannischen Stil gepflegt zu haben. Mit seinem unnachahmlichen Deutsch, in dem die längst versunkene k.u.k.-Monarchie nachklang und das beim heutigen Betrachter Reminiszenzen an alte Filme und Wiener Kaffeehäuser wachküsst, ging er – äußerst akribisch und nicht von allen Orchestermusikerinnen und -musikern geliebt – die Arbeit mit einem klaren Konzept von der Interpretation eines Werkes an: „Seid’s so lieb, spielen wir die Stelle gleich noch mal, und achtet diesmal darauf, dass …“ ist eine typische Floskel Fricsays, des Orchestererziehers, der auch gern mal Passagen aus der Partitur vorsang, um seine Vorstellungen zu konkretisieren. Ein Musiker hat seinen Arbeitsstil als „liebenswürdige Unerbittlichkeit“ charakterisiert.
Fleiß beim vorbereitenden Studium der Werke war eines seiner Erfolgsrezepte, ein anderes war jenes gewisse Etwas, eine Mischung aus Humor und Intuition im Umgang mit Menschen, das sich nicht ganz greifen lässt. Während sich Karajan, zu dem Fricsay übrigens gute Beziehungen unterhielt, vor dem Publikum gern mal als entrückter Hohepriester einer fernen Gottheit stilisierte, kam Fricsay eher bodenständig daher, in seinem Auftreten wie auch in seiner Art, dem Orchester seine Vorstellung von Musik zu erklären. Er trat nach außen eher als Musikhandwerker auf denn als ein in höhere Sphären entrückter Genius. In seinen Fernsehaufnahmen präsentiert er sich denn auch eher als jovialer Schweijk denn als Musikpapst.
„Ich bin kein Militarist“
Mit Schweijk scheint Ferenc Fricsay übrigens einen grundlegenden Charakterzug geteilt zu haben, nämlich seine spöttische Abneigung gegen alles Militärische. Er begann seine Dirigentenkarriere in Szeged ja auch als Militärmusiker, und dies zur Zeit des autoritär regierenden Reichsverwesers Miklós Horthy, daher gehörte für viele Jahre auch die Uniform zu Fricsays Dienstkleidung. Es gibt Fotos aus der Vorkriegszeit, auf denen Ferenc Fricsay in Uniform das sonntägliche Platzkonzert der Militärkapelle dirigiert, aus heutiger Perspektive eine seltsame Veranstaltung, damals aber beliebter Teil der Wochenendunterhaltung, denn der Eintritt war kostenlos.
„Ich musste natürlich in Uniform herumgehen und habe einen Säbel an meiner linken Seite getragen. Ich konnte mich, offen gesagt, nur schwer damit abfinden. Mehr als einmal habe ich meinen Säbel verloren oder bin darüber gestolpert.“ Bei einer Probe von Kodálys „Háry-János-Suite“ erklärt Fricsay dem Orchester, wie früher die Werbung junger Soldaten im Gasthaus bei lauter Musik und viel Wein stattfand: Damit sie sich (weidlich angetrunken, versteht sich) von den Werbern verpflichten ließen, wurde den jungen Burschen das Soldatenleben als herrlichstes Leben auf der Welt angepriesen – Fricsay setzt trocken hinzu, „ich bin gar nicht dieser Auffassung … ich bin kein Militarist.“
Ferenc Fricsay hat wesentlich dazu beigetragen, die Musik der ungarischen Klassiker der Moderne, also von Béla Bartók und Zoltán Kodály, in den Konzertsälen durchzusetzen. Höchst beeindruckend (wie all seine Bartók-Aufnahmen) ist noch immer seine Einspielung der Klavierkonzerte von Bartók mit „seinem“ Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und Géza Anda am Klavier, aber auch seine Interpretation von Mozarts „Don Giovanni“ wird noch immer gerühmt.
Das Haus in Ermatingen
Wie verschlug es Fricsay, den rastlos in Deutschland, den USA, Italien, Israel und anderswo tätigen Großdirigenten in den fünfziger Jahren ausgerechnet nach Ermatingen? Er wurde dank seiner Erfolge und internationalen Dirigate ein wohlhabender Mann, und seine Frau führte in Berlin einen Haushalt mit Küchenhilfe, Kindermädchen und Chauffeur, man lebte also auf halbwegs großem Fuße. Der Komponist Rolf Liebermann empfahl etwa 1952, als die Familie Fricsay nach einem ständigen Domizil in der Schweiz suchte, den Thurgau, speziell Ermatingen. Fricsays Frau fuhr nach Ermatingen, wo eine leerstehende Villa zu vermieten war, das Haus gehörte dem deutschen Großindustriellen Hoesch und war seit dem Krieg unbewohnt. Die Fricsays mieteten es zuerst und kauften es später. Seit sie ab 1956 nicht mehr ständig auf Tournee waren, war es dann ihr echtes Zuhause.
Hier, in seinem letzten Domizil, hat sich Fricsay in seinen letzten Lebensjahren dann sichtlich wohlgefühlt, wie ein Besucher berichtet: „Er hatte ein Stück Land gekauft hinter seinem Haus in Ermatingen am Bodensee. Nach einer dieser großen Mahlzeiten, die wir ihm zu verdanken haben, führte er uns hinaus auf den Hügel zu dem köstlichsten Blick, den ich mir vorstellen kann: strahlende Sonne über dem Bodensee. Und auf einmal sahen wir Fricsay einen Luftsprung machen. Dazu rief er aus: ‚Kinder, Kinder ist das wundervoll, dass der liebe Gott durch a’ bisserl Wedeln [=Dirigieren] einem so viel Geld gibt, dass man das hier kaufen kann.“
Autor: HB
Literatur:
(Diese Bücher sind antiquarisch beispielsweise über www.eurobuch.com erhältlich):
Ferenc Fricsay, Über Mozart und Bartók. Mit einleitenden Worten von Yehudi Menuhin und einem Nachwort von Dr. Erik Werba, Kopenhagen/Frankfurt am Main 1962. [Das einzige Buch von Ferenc Fricsay.]
Silvia Göhner-Fricsay, Wolfram Dufner, Meine Lieben, meine Freunde und ich. Fragmente eines Panoramas des Menschseins; gelebt, geliebt, gelitten. Privatdruck, Zug 2002. [Die Memoiren der zweiten Frau Friscays, die fünf Jahre nach Fricsays Tod in vierter Ehe den schweizerischen Unternehmer Ernst Göhner heiratete.]
Friedrich Herzfeld (Hrsg.), Ferenc Fricsay. Ein Gedenkbuch, Berlin 1964.
Lutz von Pufendorf (Hrsg.), Ferenc Fricsay. Retrospektive-Perspektive, Berlin/Wiesbaden 1988.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]
Lieber Harald Borges, lieber Bruno Neidhart!
Vielen Dank für Ihre Erklärungen vom 19.10.2015!
Jawohl, jetzt ist mir alles klar! Merci vielmals!
Mit freundlichem Gruß: Katalin Béke
Zur Versachlichung: Das Rebenfeld in westlicher Richtung nennt sich „Westerfeld“. Alles klar?
Liebe Frau Béke, hier haben Sie etwas missverstanden: Das Haus gehörte nicht einer Familie Westerfeld, sondern hieß so nach dem Gewann „Westerfeld“ in Ermatingen, in dem es liegt – dieser althergebrachte Flurname erklärt sich vermutlich aus der Lage am westlichen Ortsrand Ermatingens.
Schönen guten Tag, liebe Marta Dobay-Fricsay!
Mir ist etwas aufgefallen:
Ich zitiere aus dem gedruckten Zeitungs-Text von oben:
“ … das Haus gehörte dem deutschen Großindustriellen Hoesch und war seit dem Krieg unbewohnt.“
In Ihrem Kommentar erwähnen Sie aber die Familie *Westerfeld*, als damalige Besitzer des Hauses/der Villa.
Nun, welcher ist richtig? Ich frage nur deshalb, weil Sie (verständlicherweise) um eine Korrektur gebeten haben.
Mit ganz lieben Grüßen aus Offenburg/Deutschland.
Ps.: Im Übrigen: Auf sehr weitem Wege haben unsere Familien gleiche Stränge: Mira Merk (Baby Néni), verheiratet in erster Ehe mit Fábián Lajos, der mein Onkel ist(war). Meine Mutter war die kleine Schwester von Ihm: Fábián Gizella. Und meine ganz liebe Cusine ist die *Matyi*, bzw. Judit Spielmann und Ihre Schwester ist meine Namenstante, … die geborene Fábián Kati, heute (verw.) Littmann Katalin. Ihre Mutter, die Baby Néni ist/war die Namenstante von meiner Schwester, die ebenfalls: Baby, als Kosenamen trägt.
Hát igen! Ilyen kicsi a Világ! 🙂
Üdvözlettel:
Béke Katalin
In der Tat, Ferenc Fricsay ist als ein trotz seines Weltruhmes stets bescheidener und umgänglicher Mensch in Erinnerung geblieben (was ihn von manchen seiner Kollegen wohltuend unterscheidet). Ich habe in meinem Artikel übrigens auch nichts anderes behauptet.
Das Haus hieß, als es der Familie Fricsay gehörte, „Haus Westerfeld“, und wurde erst von einem späteren Besitzer in „Villa Fricsay“ umbenannt, auch wurde das Äußere des Gebäudes verändert, nachdem es die Fricsays verkauft hatten. Die entsprechende Passage meines Artikels („ein wenig protzig“) bezieht sich auf den heutigen Zustand des Gebäudes.
Die Fricsays wohnten von 1949 bis 1952 in Berlin und zogen dann nach Ermatingen um, das zum festen Familienwohnsitz wurde. Silvia Göhner-Fricsay, Ehefrau Ferenc Fricsays, schreibt zum Umzug: „Das Haus gehörte dem deutschen Großindustriellen Hoesch und stand unter Verwaltung der Schweizerischen Verrechnungsstelle. Seit dem Krieg war es unbewohnt, als Hitler dem Eigentümer befahl, ins Reich zurückzukehren, andernfalls er die Eisen- und Stahlwerke Hoesch enteignen und verstaatlichen würde. Die Villa war herrlich möbliert. Ich telefonierte mit Frau Hoesch, sie war mit uns als Mieter einverstanden und wir auch mit der Miete, sie betrug fünfhundert Franken im Monat.“
Nach etwa einem Jahr haben die Fricsays nach ihren Angaben das Haus gekauft und den Hoeschs ihr Mobiliar zurückgegeben. Silvia Göhner-Fricsay hat das Haus dann „wunderschön eingerichtet mit alten Möbeln aus Berlin, die teilweise aus dem Schloss Charlottenburg stammten, und aus Wien wie dem Rokokoschrank der Maria Teresia. Dass ich die kostbaren Möbel, Bilder, Teppiche und allen Hausrat überhaupt aus dem insularen Berlin herausgebracht habe, verdanken wir dem sympathischen jungen Stadtkommandanten General Taylor vom Amerikanischen Sektor. Im Militärzug hat er unser Hab und Gut über die Zonengrenze bringen lassen und sicher gelangte es durch die Sowjetische Besatzungszone bis nach Ermatingen.“
Es macht mich als Tochter betroffen, dass über das „ein wenig protzige Haus“ geschrieben wird. Während unsere Familie dort ihren Wohnsitz hatte, wurde es unverändert (gebaut ca. 1920???) belassen. Zur damaligen Zeit war es das Haus Westerfeld!!! Niemals Villa Fricsay!!!!!!! Unser Papa war bis zuletzt äusserst bescheiden! Anspruchsvoll war er hingegen, was seine eigene musikalische Leistung anbetraf! –
Die ins Auge stechenden Erweiterungen im Garten, am Haus, Wintergarten etc. sind durch den heutigen Besitzer im Laufe der Jahre entstanden.
„““““““Fährt man auf der Hauptstraße durch Ermatingen in Richtung Berlingen, versperrt sich das vorletzte, ein wenig protzige Haus rechter Hand den neugierigen Blicken durch eine Einfahrt, an der „Villa Fricsay“ steht und mit einer Inschrift an den Dirigenten erinnert wird.““““““““““““““““““““
Für eine Richtigstellung wäre ich Ihnen im Namen aller Nachkommen sehr dankbar.