Christus, Geld und die Aussicht auf schnellen Sex – was Schweizer Gurus antreibt
Die Schweiz ist ein Sekten-Mekka. Das dokumentiert der Jahresbericht (PDF-Download) 2022 der Zürcher Beratungsstelle InfoSekta. Diese verzeichnete im vergangenen Jahr Anfragen zu 300 problematischen Gruppierungen aus dem Kosmos der Sektenszene.
InfoSekta schreibt von einer «Pulverisierung des Weltanschauungsmarktes». Viele Gruppen seien so klein, dass sich kaum Informationen im Internet finden liessen. Etliche Menschen – vor allem Männer – fühlen sich offensichtlich berufen, sich als Guru oder Messias in Szene zu setzen, Anhänger und Anhängerinnen um sich zu scharen und das Heil in die Welt zu bringen. Wobei wohl viele auch von der Hoffnung und vor allem dem Drang beseelt sind, Macht, Anerkennung und Geld zu erlangen. Nicht selten ist auch die Aussicht auf den schnellen Sex verlockend.
Doch zurück zum Jahresbericht (PDF-Download). Der christliche Glaube ist mit Abstand die grösste Quelle, die sektenhafte Gruppen hervorbringt. Zumindest verzeichnete die Beratungsstelle am meisten Anfragen zu christlichen Gruppierungen und Freikirchen. So bezogen sich von den 3000 Anfragen 49 Prozent auf christliche Gemeinschaften. Dies bedeutet, dass es auch auf dem Fundament des christlichen Glaubens und der Bibel zu radikalen Entwicklungen und zur Indoktrination von Gläubigen kommen kann. Vor allem Freikirchen sind gefährdet, eine sektenhafte Schlagseite zu bekommen.
Auf der unrühmlichen Hitliste fungieren esoterische Gruppen im zweiten Rang. 24 Prozent der Anfragen bezogen sich auf problematische spirituelle Gemeinschaften. Doch nicht nur religiöse oder pseudoreligiöse Zirkel laufen Gefahr, sektenhafte Aspekte zu entwickeln, auch säkulare Bewegungen können sich radikalisieren und eine Sektenstruktur mit Indoktrinationsmethoden entwickeln. Diese erreichten in der Statistik von InfoSekta mit 23 Prozent den dritten Platz.
Locken mit dem schnellen Reichtum
Der hohe Prozentsatz hängt wohl mit den Nachwehen der Corona-Pandemie zusammen. So radikalisierten sich Massnahmengegner, Verschwörungstheoretiker, Coronaleugner, Staatsverweigerer, Querdenker und rechtsextreme Gruppen. Zu den säkularen Bewegungen gehören auch die Reichsbürger und Anastasia. Anfragen gab es auch zur Multi Level Marketingsystem Mastery IM Academy. Diese lockt vor allem junge Leute an und verspricht ihnen einen schnellen Reichtum. In teuren Kursen werden sie unter anderem in den Handel mit Kryptowährungen eingeweiht. Gleichzeitig sollen sie neue Interessenten anwerben. Die Provisionspraxis erinnert an ein Schneeballsystem. In Deutschland warnen die Behörden vor solchen Organisationen.
In der Liste von InfoSekta taucht auch der Influencer Andrew Tate auf. Der Kickboxer gilt als Frauenhasser und wird mit seinem Macho-Gehabe von vielen jungen Männern als Alpha-Mann verehrt. Tate sass Anfang dieses Jahres für einen Monat in Untersuchungshaft. Die Justizbehörden werfen ihm Vergewaltigung und Menschenhandel vor. Ausserdem soll er junge Frauen gezwungen haben, bei Sex-Videos mitzumachen.
Zeugen Jehovas oben in der Statistik
In Bezug auf einzelne Glaubensgemeinschaften und Sekten schwangen in der InfoSekta-Statistik die Zeugen Jehovas weit obenaus. 23 Prozent der Anfragen betrafen diese Freikirche. Gut positioniert ist wie jedes Jahr Scientology mit 5 Prozent. Allerdings hat die amerikanische Sekte schon bessere Zeiten erlebt. Seit sie das Zentrum an der Freilagerstasse in Zürich verlassen musste und nun in der Provinz residiert, ist es noch ruhiger um sie geworden. Zudem setzen ihr die vielen Skandale in den USA zu, die von prominenten Aussteigern ausgelöst worden sind. Ihre Vorwürfe richten sich auch gegen den Sektenboss David Miscavige. Drei Aussteiger haben ihn wegen Kindesmissbrauchs angeklagt. Seither ist der herrschsüchtige Sektenboss abgetaucht.
In der Liste von InfoSekta taucht auch die christlich-fundamentalistische Sekte Organische Christus Generation von Ivo Sasek auf. Anfragen gab es auch zur esoterischen Kirschblütengemeinschaft vom verstorbenen Guru Samuel Widmer. Sie bietet Psycholysesitzungen in Gruppen an, eine Art Drogentherapie. Ein weiteres Merkmal sind die Polyamorie und ein eigenartiges Verständnis zur Inzestfrage.
Schaut man sich die Statistik der christlichen Gemeinschaften an, machen die Zeugen Jehovas 46 Prozent aus, gefolgt von evangelikalen Freikirchen (30%) und anderen Gemeinschaften (23%). InfoSekta thematisiert seit vielen Jahren die Zeugen Jehovas, die sektenhafte Züge aufweisen.
Sexueller Missbrauch
Wie stark die Sexualität in manchen spirituellen Gruppen instrumentalisiert wird, zeigt ein ausführliches Interview (PDF-Download) mit zwei Aussteigerin aus der esoterischen Gruppe Komaja des kroatischen Gurus Franjo Milicevic, der seit 1987 ein Zentrum in der Schweiz führt. Die beiden Frauen schildern eindrücklich, wie sie spirituell indoktriniert wurden und schliesslich gegen ihren Willen sexuell missbraucht wurden.
Warum ist die Schweiz ein so beliebtes Biotop für sektenhafte Gemeinschaften? Gesicherte Erkenntnisse dazu gibt es nicht, schliesslich lässt sich die klandestine Sektenlandschaft nicht wissenschaftlich untersuchen. Ein Grund dürfte der Reichtum der Schweiz sein, der radikale Gruppen anzieht. Gleichzeitig macht der Wohlstand mit all seinen Begleiterscheinungen viele Leute anfällig für überrissene Heilsversprechen.
Text: Hugo Stamm. Sein Beitrag erschien zuerst auf: https://www.watson.ch
Bild: H. Reile. Die Aufnahme zeigt eine Massenhochzeit der Sekte „Fiat Lux“, die einst in der Schweiz gegründet wurde. Deren verbliebene Mitglieder leben nach dem Tod ihrer Leiterin Uriella weiterhin in der kleinen Ortschaft Ibach im Schwarzwald.