Das Recht auf Mittelalter
Bei den Kreuzlinger Reformierten ist ein Streit zwischen liberalen und konservativen Kirchenmitgliedern entbrannt, über ein Thema, das 2020 eigentlich keine roten Köpfe mehr verursachen sollte: Sexualität.
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„Ich wäre nicht begeistert“, antwortet der evangelische Kirchenpräsident von Kreuzlingen, Thomas Leuch, auf die Frage der Thurgauer Zeitung, ob er es befürworten würde, homosexuelle Paare zu trauen. Das muss man sich mal vorstellen. Leuch schiebt zwar hinterher, dass er die Entscheidung den Theologen überlassen wolle. Und dass es kaum Nachfragen diesbezüglich gebe. Das macht seine Aussage aber auch nicht besser.
Wenig verwunderlich, dass die ehemalige Kirchenpräsidentin, Susanne Dschulnigg, selbst lesbisch, „beinahe vom Stuhl gefallen“ ist, wie sie der Thurgauer Zeitung ebenfalls mitteilte. Dschulnigg tritt an der bevorstehenden Wahl ums Kirchenpräsidium am 15. März gegen Thomas Leuch an, dem sie schon früher mangelnde Führungsqualitäten vorwarf, nun aber grundsätzliche Kritik vorbringt: Die kommende Wahl sei eine Richtungswahl zwischen einer progressiven oder einer konservativen Zukunft der Kreuzlinger Evangelischen Kirche.
Den Stein ins Rollen gebracht hat ein Satz im neuen theologischen Leitbild der Gemeinde, der gelöscht wurde: „Wir anerkennen das Recht auf sexuelle Selbstfindung“. Geblieben ist noch: „Wir wenden uns gegen jede Art von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität in Kirche und Gesellschaft“.
Die Kirchenvorsteherschaft genehmigte beides im vergangenen August. Daraufhin stänkerten Gegner mit einer anonymen Anzeige in der Kreuzlinger Zeitung, die klarstellt: „Gott hat am Anfang den Menschen als Mann und Frau geschaffen.“ Die Behörde hat dann – nach einem Personalwechsel, scheinbar waren so plötzlich Mehrheiten vorhanden – den ersten Satz ihrer Ausführungen zur Sexualität zurückgenommen. Mit dem „Recht auf sexuelle Selbstfindung“ könnten sich viele in der Gemeinde einfach nicht identifizieren, schreibt Behördenmitglied Ron Neely im Kirchenboten über die Gründe. Auf www.ref.ch konkretisiert Pfarrer Damian Brot, was die Gläubigen genau stört: Sie würden Homosexualität als Widerspruch zur Bibel betrachten. Deshalb sei der Teilsatz für sie stossend, da er in ihrer Auffassung Homosexualität befürworte oder sogar fördere. Zudem hätten Kritiker eingewandt, dass man damit auch Pädophilie rechtfertigen könne.
Das sind ungewohnte Töne aus der evangelischen Kirchgemeinde, die in den letzten zehn Jahren als liberal galt. Zumindest im Vergleich zu den Katholiken, in deren Reihen nach einem Auftritt von Homo-Hasserin Gabriele Kuby und Abtreibungsgegner Martin Lohmann ein jahrelanger Streit tobte, bei dem sich letzten Endes aber die progressiven Christen durchsetzten.
Man könnte jetzt natürlich ausführen, warum die Äusserungen der Gegner an sich schon diskriminierend sind und damit bereits gegen das übrig gebliebene Leitbild verstossen. Oder man könnte sich echauffieren über Menschen, die Homosexualität als Sünde oder Krankheit herabwürdigen oder mit Pädophilie in einen Topf werfen. Menschen, die sexuelle Aufklärung und Wissenschaft einfach ignorieren.
Man könnte als evangelischer Deutscher, der in Kreuzlingen wohnt, aber auch einfach wählen gehen: auf Ebene der Kirchgemeinde ist Ausländern das Wählen nämlich erlaubt. Die Wahlunterlagen wurden bereits verschickt.
Ausserdem ist die Konstellation interessant.
Mit Thomas Leuch amtet ein ehemaliger Punk-Musiker als Kirchenpräsident. Er war Basser der einzigen Kreuzlinger Punkband, die es jemals zu internationalem Ruhm schaffte: Abgas. Leuch spielte zwar nur wenige Monate Bass und Percussion, ist aber auf einer Kassettenveröffentlichung aus dem Jahre 1981 zu hören, mit expliziten Texten. So singt das Trio beispielsweise: „Chrüzlinge, Chrüzlinge, schiss Wixerstadt“. Ein Konzertbericht aus dem Jahr 1981 im Kreuzlinger Jugendhaus zeigt symptomatisch, was einen Auftritt von Abgas in dieser Zeit ausmachte: „Abschreck versohlte seine Drums dermassen, dass Leuch auf den Bass schlug, als wäre er schwerhörig. Die Mädels, in dünnen indischen Hemdchen ganz vorne gesessen, rannten regelrecht zum Eingang, als die Band auf der Bühne stand und spielte. Hinterher meinten einige: Scheiss, Krach, keine Musik“. In einer späteren Phase der Band trat Abgas nur noch nackt, mit Fingerfarben bemalt auf und beschmiss das Publikum mit Fischen – da war Thomas Leuch aber schon lange kein Mitglied mehr. Trotzdem sollte man meinen, dass dieses Detail aus der Jugend des langjährigen EVP-Gemeinderats auf einen aufgeschlossenen Menschen hindeutet.
Susanne Dschulnigg hingegen musste sich als Gründerin des schwul-lesbischen Frauenfelder Filmfestivals Pink Apple schon mehr als einmal Schilder ins Gesicht halten lassen, auf denen stand, dass sie wegen ihrer Sexualität direkt in die Hölle wandern werde. Auch als Kantonsrätin der SP hat sie sich für ihre Überzeugungen stark gemacht, oder den Open Place im Quartier Kurzrickenbach mit aufgebaut und betreut. Ihr muss man wirklich auf die Schulter klopfen, was die Thurgauer Zeitung im Dezember auch tat und sie unter die 100 wichtigsten Thurgauer Persönlichkeiten, das „Who is Who“ des Kantons, wählte.
Während Thomas Leuch nur ungern an seine Zeit bei Abgas erinnert wird, beeindruckt mich diese tausendmal mehr, als ein Kirchenpräsident, der Homosexuelle nur zähneknirschend akzeptiert. Bei ihm scheint irgendwann ein Sinneswandel stattgefunden zu haben, von dem man bei Susanne Dschulnigg nur insoweit reden kann, als dass sie es bereut, 2016 als Kirchenpräsidentin zurückgetreten zu sein.
Der Ausgang der Wahl in der „Wixerstadt“ am 15. März wird jedenfalls mit Spannung erwartet.
Stefan Böker