Der lange Schatten von Kaiser Wilhelm zwo

Im September kehrt Pickelhaubenträger Wilhelm II. im Geiste zurück ins Toggenburg: Kirchberg feiert 100 Jahre Kaisermanöver. Muss das Jubiläum sein? Im Toggenburg ist man sich da nicht ganz einig. Aber selbst Kritiker nehmen die Feierlichkeiten auf dem Kaiserhügel mit Humor. Nur 100 000 Zaungäste wie vor 100 Jahren werden wohl nicht kommen. Auch deutsche Militärs haben sich, soweit wir wissen, dieses Mal nicht angesagt. Und das ist doch mal eine gute Nachricht.

Für die Herbstmanöver des 3. Armeekorps des Schweizer Heeres am 7., 8. und 9. September anno 1912 im Untertoggenburg lud sich Zwirbelbart Wilhelm II. gleich selbst ein. Obwohl es in Europa bereits nach Krieg roch, musste er mit keiner Absage rechnen: Die Chefs des 3. Armeekorps, der spätere Erst-Weltkriegs-General Ulrich Wille war deutschstämmig und «seinem Kaiser» in Sympathie verbunden; auch Oberstkorpskommandant Theophil Sprecher hielt gute Freundschaft zum Chef des deutschen Generalstabes, Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke. Und das Schweizer Volk – zumindest das deutschsprachige – war total verrückt nach seiner Majestät.

Über 100 000 strömten zum Wilhelm-Empfang ins Manövergebiet. Die Schweizer Illustrierte setzte den Kaiser in vollem Kriegsputz aufs Titelblatt. 20 000 Schweizer Soldaten und 4000 Armeepferde spielten im Gelände bei Kirchberg Krieg. Der hohe Gast stand auf dem Hüsligs, der heute Kaiserhügel heißt und auf dem seither, in Erinnerung an das Ereignis, die Kaiserlinde gedeiht. Laut Überlieferung soll Wilhelm II. von der Qualität des helvetischen Kriegshandwerks begeistert gewesen sein.

Die Westschweizer ließ das ziemlich unbeeindruckt. Als erklärte Frankophile im europäischen Großmächte-Gerangel waren sie von Anfang an gegen den Besuch des deutschen Säbelrasslers und freuten sich erst, als er wieder außer Landes war.

Die Kampfkraft der bewaffneten Neutralität getestet

Der Kaiser und seine Generalität kamen nicht in die Schweiz, um dem lieben Nachbarn einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, sondern um einen Krieg vorzubereiten, bei dessen Beendigung 17 Millionen Menschen tot sein werden. Es ging den Herren darum zu prüfen, ob bei einem Angriff auf Frankreich die so genannte „Westplanung“ – die Umgehung der französischen Festungsfront mit einem großen Umfassungsmanöver über belgisches und niederländisches Territorium – funktionieren würde. Die Deutschen wollten sich bei der Inspektion Gewissheit verschaffen, ob die bewaffnete Neutralität der Eidgenossen so viel Kampfkraft aufbrächte, um die Franzosen aufzuhalten, falls diese ein Gegenmanöver an der Südflanke über schweizerisches Territorium durchführen sollten.

Davon sei man schließlich deutscherseits überzeugt worden, meinte der Schweizer Militärhistoriker Hans Rudolf Kurz in einem Essay, der aus Anlass „Fünfzig Jahre Kaisermanöver2 1962 erschien. Zwei Jahre nach dem Kaisermanöver haben die Deutschen Frankreich nach dem Konzept „Westplanung“ überrumpelt.

Manöverfrühstück und Vorträge

In Kirchberg sind nicht alle begeistert, dass wegen der „Hundert Jahre Kaisermanöver“ ein Jubiläum abgehalten werden soll. Dafür habe man auch Verständnis, sagt Gemeinderat Linus Calzaferri, Präsident des Organisationskomitees für das Jubiläum. Deshalb würde hinlänglich auf die politischen Hintergründe des Kaiserbesuchs und die damalige Situation in Europa hingewiesen. „Aber trotzdem, der Kaiserbesuch war für unsere Region ein riesiges Ereignis, das nicht einfach vergessen werden darf“, sagt Calzaferri. „Wir wollen in angemessenem Rahmen daran erinnern.“

Geplant sind an den Jubiläumstagen vom 7. und 8. September eine kleine historische Truppenschau, ein Manöverfrühstück und ein Volkshochschulvortrag. Auf dem Kaiserhügel soll auch eine Gedenktafel enthüllt werden. Bereits an Ostern stellte die Gemeinde Kirchberg auf dem Kaiserhügel eine Panoramatafel auf, weil von der Anhöhe nicht nur das historische Manövergelände, sondern auch der Alpstein in seiner vollen Pracht zu sehen ist. Am 30. Mai findet an dem historischen Platz außerdem eine militärische Fahnenübergabe statt.

„Mit dem Kaisermanöver hat das überhaupt nichts zu tun“, sagt der letzte Kommandant der inzwischen aufgelösten Felddivision 7, Divisionär außer Diensten, Peter Stutz. Aus dem 3. Armeekorps von 1912, ist die Felddivision 7 entstanden. Im Herbst soll unter der Kaiserlinde eine Gedenktafel für diese Truppe enthüllt werden.

1988 gab’s Kaiserschmarrn

Der Kirchberger Historiker Armin Eberle, der das Jubiläumsbuch heraus gibt, sagt: „Heute ist auf das Kaisermanöver eine durchaus kritische Sichtweise möglich. Die deutsche Schweiz hatte damals große Sympathien für die Reichsdeutschen und ihren Kaiser. Das beweisen die Massen, die bei seinem Besuch erschienen waren. Die Schweiz war ähnlich militarisiert wie Deutschland. Mit dem Ersten Weltkrieg vollzog sich ein Bruch, der ein ganzes Wertesystem in sich zusammenstürzen ließ.“

Das letzte Mal wurde 1988 des Kaisermanövers gedacht. Damals sind aus Anlass des 50igjährigen Bestehens der Felddivision 7 Teile des Kaisermanövers in historischen Uniformen und unter Kanonendonner von Wehrmännern nachgespielt worden. Der dasmalige EMD-Chef, Alt-Bundesrat Arnold Koller, hatte das Spektakel an Kaiserstatt abgenommen. Auch Mitglieder der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) waren zugegen. Sie trugen Kaiser-Willhelm-Masken und verteilten die Süßspeise Kaiserschmarrn.

Autor: Harry Rosenbaum/Saiten