Die kollektive Kraft des „sozialen St.Gallen“

Was bedeutet es, wenn im konservativen Kanton St.Gallen der am weitesten links stehende Politiker in den Ständerat gewählt wird? Wie konnte Paul Rechsteiner diesen Wahlkampf gewinnen? Ralph Hug wagt die Analyse eines historischen Ereignisses und berichtet über viel Wut und Empörung in der Schweizer Bevölkerung, die sich in diesem Wahlergebnis ausdrückt. Die Alternative in St. Gallen heißt nunmehr Paul Rechsteiner.

War es der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings, als Paul Rechsteiner im Januar 2011 anrief und in einem Nebensatz die Absicht kundtat, er überlege sich eine Kandidatur für den Ständerat? Und war es der zweite Flügelschlag, als wenig später ein Wahlteam stand, das die Sache an die Hand nehmen sollte? Der Schmetterlingseffekt ist aus der Chaostheorie bekannt. Er besagt, dass aus einer kleinen Bewegung am Anfang durch selbstverstärkende Effekte am Schluss eine große Welle entstehen kann. Dieses Bild passt nicht schlecht zu dem, was sich im Kanton St.Gallen im Wahljahr 2011 ereignete. Rechsteiners Wahl zum Ständerat war ein unerwartetes Ereignis. Mehr: eine Erschütterung, ein politischer Erdrutsch, den niemand vorausgesehen hat. Aber einer, der sich sehr wohl abzeichnete.

Einen St.Galler Ständeratssitz zu erobern, galt für die Linke lange als aussichtslos. Die bisherigen Kandidaturen der SP waren eher Präsenzbekundungen. Oder sie dienten der Profilierung für künftige Wahlen. Über Jahrzehnte teilten sich CVP und FDP die beiden Sitze unter sich auf. Das bürgerliche Mandatskartell hatte nur zwei Ausnahmen: 1911 und 1971, als die beiden Sozialdemokraten Heinrich Scherrer und Matthias Eggenberger siegreich waren. Das Unmögliche zu denken war somit der erste Akt dieses Wahlkampfs.

Das Unmögliche beginnt im Kopf. Eine Studentenparole aus dem Pariser Mai 1968 hatte gelautet: „Seid realistisch, fordert das Unmögliche“. Was hätte eine Kandidatur von Paul Rechsteiner anderes bedeutet als den Versuch, die fest gefügte St.Galler Politwelt aus den Angeln zu heben?

„Gute Löhne, gute Renten und Menschenrechte für alle“

Es war aber keineswegs nur das Prinzip Hoffnung, das Rechsteiner zur Kandidatur bewogen hatte. Die Gründe lagen vielmehr in der politischen Entwicklung. «Es sind keine normalen Zeiten», hatte er betont. War nicht klar ersichtlich, dass sich in der Bevölkerung enorm viel Wut und Empörung angestaut hatte? Wut über die Exzesse von Managern, über die Milliardenzockerei in der Finanzbranche, über den wachsenden Reichtum der Oberschicht bei gleichzeitigem Sozialabbau, Lohndruck und Entlassungen. Auf der Straße, bei den einfachen Leuten, war dieses explosive Gefühlsgemisch mit Händen zu greifen. Die Frage stellte sich, ob es weiterhin die SVP sein würde, die solche Emotionen für ein fremdenfeindliches Programm bewirtschaftet. Oder ob es für einmal gelingen würde, eine alternative Perspektive aufzuzeigen.

Paul Rechsteiner war derjenige, der laut sagte, was viele denken. Am 1. Mai rief er in die Menge: „Es ist ein Klassenkampf von oben, wenn sich gewaltige Vermögen bei einer kleinen Schicht konzentrieren, während andere kaum von ihrem Lohn leben können.“ Er sprach von politischem Betrug und einer korrumpierten Demokratie. Diese Ansicht ist weit verbreitet, wenn auch oft nur in Form der geballten Faust in der Hosentasche. Viele spüren den Extremismus der Gegenwart in ihrem Alltag, am Arbeitpslatz. Sie sehen, dass etwas grundsätzlich schief läuft und korrigiert werden muss.

Rechsteiners Wahlbotschaft „Gute Löhne, gute Renten und Menschenrechte für alle“ holte die Leute an einem zentralen Punkt ab. Natürlich war es anfangs ungewiss, ob sie wirklich die Köpfe und Herzen der Menschen ansprechen würde. Doch alle Faktoren sprachen dafür. Ende August passierte Folgendes: Bei schönstem Sommerwetter strömten Hunderte von Rentnerinnen, Gewerkschafter und Angestellte in den Gossauer Fürstenlandsaal. Zusätzliche Stühle mussten hineingetragen werden. Dort fand ein Anlass statt, welcher «Kongress zur Verteidigung der Renten» hiess, mit Ruth Dreifuss, ex-Sozialministerin und Ikone der AHV (Schweizer Alters- und Hinterlassenenversicherung) als Starrednerin. Der Leitsatz der Veranstaltung lautete: „Hände weg von unseren Renten!“ Angesichs des Aufmarsches war nun klar: Die soziale Botschaft der Kampagne wirkt.

Der grobe Fehler der CVP

Oder anders gesagt: Der Schmetterling flog, die Flügelschläge wurden dichter und eine kollektive Bewegung entstand, mit Personen aus vielen verschiedenen Milieus und Netzwerken. Wer Augen hatte, konnte das erkennen. Doch in den Köpfen vieler Kommentatoren und Journalisten war die Welt noch die alte. Es lief das Normalprogramm ab. Alltagsgewohnheiten und parteipolitische Befangenheiten trübten den Blick auf die Wirklichkeit. „Rechsteiner ist nicht mehrheitsfähig“, lautete das Verdikt im St.Galler Tagblatt. Der mediale Fokus blieb auf die bürgerlichen Kandidaten gerichtet, insbesondere auf SVP-Präsident Toni Brunner. Für viele Beobachter stand er schon als Sieger fest. Besonders dann, als die CVP-Rechte im zweiten Wahlgang einen groben Fehler beging und mit Michael Hüppi ein politisches Greenhorn ins Rennen schickte. Dabei war doch klar, dass die St.Gallerinnen und St.Galler keinen Neuling in den Ständerat wählen würden. Hüppis Nomination glich eher einem Verzweiflungsakt als durchdachtem Kalkül.

In der Retrospektive erscheint der Wahlsieg von Paul Rechsteiner als logisch und folgerichtig, auch wenn er knapp ausfiel. Die parteipolitische Konstellation war zweifellos günstig. Rechsteiner zog zusätzlich taktisch Wählende aus der politischen Mitte an, die Brunner verhindern wollten und dem CVP-Kandidaten keine Chancen gaben. Viel wichtiger als Taktik waren aber die politischen Inhalte. Die Fokussierung auf Arbeit und Rente lag angesichts der wirtschaftlichen Ereignisse genau richtig. Kein Wahlkampfstratege hätte sich ein besseres Drehbuch ausdenken können, als es die Realität bot.

Sozial-Skandale in St. Gallen

Was war geschehen? Im Frühjahr waren zahlreiche Fälle von skandalösen Tieflöhnen bekannt geworden: Verkäuferinnen mit 16 Franken. Fabrikarbeiterinnen mit 13 Franken Stundenlohn. Im Juni streikten Textilarbeiterinnen der High-Tech-Firma Aquis AG in Murg, weil ihnen der Tieflohn noch gekürzt wurde. Im Sommer ordneten Firmen wie Model, SFS Stadler oder Leica Geosystems wegen des starken Frankens längere Arbeitszeiten an und wälzten so das Währungsrisiko auf die Angestellten ab. Die Nationalbank tat nichts und wurde erst im Herbst aktiv. Im August wurde bekannt, dass der Minimalzins für Pensionskassenguthaben auf historisch tiefe 1.5% gesenkt wird, was allen Versicherten empfindliche Einbussen beschert. Im Oktober platzte in St.Gallen ein Lohndumping-Skandal mit polnischen Gipsern – auf einer Baustelle des Kantons. Zuletzt im November kam die Hiobsbotschaft von Swissprinters: Ringier macht auf brutale Weise einen gut laufenden St.Galler Traditionsbetrieb dicht. Die grösste Massenentlassung seit Gedenken, 173 Leute stehen ohne echten Sozialplan auf der Straße.

Natürlich beschäftigt die Wirtschaftskrise die Menschen, sie beeinflusst ihr politisches Verhalten. Auf der Straße war nun plötzlich Folgendes zu hören: „Sonst bin ich ja für die CVP (oder die SVP oder die FDP), aber jetzt wähle ich Rechsteiner.“ An solchen Äußerungen konnte man die tektonische Verschiebungen erkennen, die abliefen. Eine kollektive Bewegung kam in Gang, die im weitesten Sinne das «soziale St.Gallen» repräsentiert und sich aus den verschiedensten Milieus speist. Offenkundig war es diese Kraft, die den SP-Nationalrat über die Ziellinie schob. Zwar fehlen genaue Daten, doch es liegt auf der Hand, dass viele wieder an der Wahl teilnahmen, die den Glauben an die Politik verloren hatten, die in Stimmabstinenz und Hoffnungslosgkeit verharrten. Jetzt aber hörten sie überzeugende Parolen und schöpften Mut. Sie ließen sich motivieren und füllten den Stimmzettel aus. So marschierte das „soziale St.Gallen“ oder, um im Bild der Chaostheorie zu bleiben, es türmte sich nach und nach eine Welle auf, die sich dann am Wahltag vom 27. November in die Urnen ergoss und es möglich machte, dass auf dem Klosterplatz plötzlich die „Internationale“ erklang.

Zurück blieben verblüffte, teils auch konsternierte Beobachter, die es gewohnt sind, Wahlen aufgrund von Parteistärken zu beurteilen. Eine Wahl ist aber nicht nur ein arithmetisches Faktum, sondern beruht auf sozialen Prozessen. Was aber heißt es, wenn der gemäß Auswertung von nationalrätlichen Abstimmungen linkeste aller Nationalräte ausgerechnet in der konservativen Ostschweiz gewählt wird?

Das heißt, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen stark verändert haben. Die Milieus sind in Bewegung. Daraus eröffnen sich neue politische Spielräume und Chancen. Diejenigen werden erfolgreich sein, die nah an den sozialen Bedürfnissen sind und diese politisch umsetzen. Damit ein Wunder wie jenes vom „27/11“ geschehen kann, braucht es aber immer auch eine günstige Konstellationen, bei denen alle Elemente zusammenpassen.

Alphornbläser gegen Punkrock

„Es ist möglich!“, hieß es auf den Künstlerkarten, die zur Unterstützung der Kandidatur Rechsteiner in Umlauf waren. Kultur- und Kunstschaffende haben zum Wahlsieg beigetragen. Auch das war ein Merkmal dieses besonderen Wahlkampfs. Wann hat sich die Kultur das letzte Mal politisch engagiert? Es ist lange her. Dabei hat Kultur heute einen hohen Stellenwert, und sie wird auch gezielt für politische Zwecke funktionalisiert. Die SVP pflegt helvetische Traditionsbeschwörungen mit Fahnenschwingern und Alphornbläsern und hatte damit viel Erfolg.

Doch langsam scheint sich die Ausbeutung von Swissness durch den Rechtspopulismus zu erschöpfen. Wir haben nun keinen Ständerat mit bäuerlichem Migrationshintergrund, sondern zwei Standesvertreter aus dem urbanen Raum. Sie liegen zwar politisch weit auseinander, sind aber doch in ähnlichen Kulturen groß geworden. Karin Keller-Sutter hört noch heute britischen Punkrock von The Clash, Paul Rechsteiner liess im Wahlkampf Manuel Stahlberger mit Bit-Tuner und den Geräuschavantgardisten Norbert Möslang aufspielen. Ein starker Kontrast zur kulturellen Formierung der bisherigen Amtsinhaber. Es sind tatsächlich verrückte Zeiten, in denen wir leben. Aber eben auch verrückt spannende.

Autor: Ralph Hug, Pressebüro St.Gallen

Ralph Hug war Mitglied im Wahlteam von Paul Rechsteiner.