„Die Probleme des Patriarchats betreffen uns alle“
Morgen, Freitag, streiken in der ganzen Schweiz Frauen. Sie legen die Arbeit nieder, demonstrieren in den Städten und tanzen in die Nacht. Zum ersten Schweizer Frauenstreik seit 1991 haben zahlreiche Organisationen aufgerufen, darunter auch die Gewerkschaften. Worum geht es bei diesem Protest? Und was erwarten sich die Frauen davon? Das Ostschweizer Magazin „Saiten“ hat dazu Barbara Schällibaum, Alexandra Akeret, Anja Beven Eberle und Léonie Schubiger vom St.Galler Streikkomitee befragt.
Léonie, du bist mit 16 die Jüngste in dieser Runde. Warum streikst du am 14. Juni?
Léonie Schubiger: Weil es um unsere Zukunft geht und wir vorwärts machen müssen. Ich streike ja nicht nur für mich, sondern für alle Frauen. Auch für die Generationen, die nach uns kommen.
Schwänzt du oder lässt du dich entschuldigen?
Léonie Schubiger: Ich schwänze – und hoffe, dass auch der Rest unserer Klasse mitmacht. Wir sind nämlich alles Frauen, mit einer Ausnahme.
Der erste schweizweite Frauenstreik fand 1991 statt. Warum braucht es genau dieses Jahr einen zweiten?
Alexandra Akeret: Weil es wieder einen Protest braucht. Angefangen hat es in Bern, letztes Jahr im Herbst. Damals war aber noch nicht klar, in welcher Form der Protest stattfinden wird. Als der Streik dann beschlossene Sache war, haben wir uns recht schnell auch in St.Gallen organisiert.
Wie viele seid ihr aktuell im St.Galler Komitee?
Alexandra Akeret: In der Kerngruppe sind wir etwa zwölf. Der Streik dieses Jahr ist ganz anders organisiert als der erste. 1991 waren die Gewerkschaften zentral, heute kommt die Bewegung mehr von unten und ist sehr breit abgestützt. Zu unseren monatlichen Streiktreffen kamen jeweils zwischen 50 und 70 Frauen.
Es kursieren diverse Manifeste mit Forderungen zum Frauenstreik. Welche zwei sind euch am wichtigsten?
Léonie Schubiger: Die Lohnungleichheit muss endlich abgeschafft werden, davon sind sehr viele Frauen betroffen. Das ist ja auch im Gleichstellungsgesetz verankert, aber nicht umgesetzt. Außerdem muss dringend etwas gegen die Gewalt an Frauen unternommen werden.
Barbara Schällibaum: Ich unterstütze sehr das Manifest der Frauen aus der Care-Arbeit. Care-Arbeit, Pflegearbeit, muss aufgewertet werden, wir müssen endlich begreifen, wie wichtig sie ist für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Das gilt für die bezahlte wie für die unbezahlte Care-Arbeit. Ganz allgemein muss die Arbeit anders verteilt werden. Männer, die können und wollen, sollen auch Teilzeit arbeiten können, mehr Care-Arbeit leisten können.
Alexandra Akeret: Da kann ich mich Barbara nur anschliessen, die Care-Arbeit ist auch mir ein sehr großes Anliegen. Zweitens die Mutterschaft: Es darf kein Nachteil mehr sein, wenn eine Frau Mutter wird. Schwangerschaftsurlaub, Elternzeit, Wiedereingliederung in den Beruf: All das muss endlich besser geregelt werden. Mutterschaft darf nicht zu einem Bruch in der Biografie führen.
Anja Beven Eberle: Das sehe ich genauso. Die Chancengleichheit muss endlich umgesetzt werden – unabhängig vom Geschlecht. Und ich will, dass der weibliche Körper nicht mehr derart sexualisiert wird. Frauen sind keine Sexobjekte.
Barbara Schällibaum: Einen wichtigen Punkt will ich noch anfügen: die Migrantinnen kommen zu kurz. Viele haben in ihrem Herkunftsland einen guten Beruf erlernt und müssen nun in der Schweiz buchstäblich die Drecksarbeit verrichten – wenn sie denn überhaupt arbeiten dürfen. Das finde ich unsäglich.
Programm Frauenstreik am 14. Juni 2019
Im Thurgau:
Treffpunkt: 12 Uhr vor dem Regierungsgebäude in Frauenfeld, Übergabe der Borschaften an den Regierungsrat. Danach Marsch zum Bahnhof. 13.12 Uhr: Abfahrt nach Weinfelden.
13 Uhr: Versammlung vor der Infostelle Frau+Arbeit in Weinfelden (Frauenfelderstr. 4). 13.30 Uhr: Treffen mit den Frauen aus Frauenfeld.
14.05 Uhr Weiterfahrt nach St.Gallen zur Kundgebung
In St.Gallen:
10 Uhr: Sternmarsch zum Zentrum
11 Uhr: Startaktion am Streikplatz in der Marktgasse
11 bis 19 Uhr: Streikplatz mit Zelt, Bar, Essen und Programm
15.24 Uhr: Kundgebung Frauenstreik St.Gallen
19 Uhr: Fest im Exrex, nur für Frauen, mit DJane Selina, Serenat Ezgican, Isabelle la belle und DJane Ruud DC
20 Uhr: Fest für alle in der Grabenhalle, mit Rosie Hörler, Elyn, Kallemi und Pa-Tee
In Kreuzlingen:
20 Uhr: Kult-X, Hafenstr. 8, zeigt den Film „We Want Sex“ (über den Kampf englischer Arbeiterinnen 1968).
Weitere Infos: frauenstreik2019.ch | www.frauenstreik19.ch | frauen-streiken.ch
Was müsste sich im Kanton St.Gallen konkret ändern?
Anja Beven Eberle: Es braucht endlich einen Vaterschaftsurlaub, oder besser: Elternzeit! Wenn nicht auf Bundesebene, dann halt kantonal. Wie prekär die Situation ist, sehe ich aktuell in meinem Umfeld. Das Kind meines Cousins ist da und es geht hinten und vorne nicht auf. Er muss vom Arbeitgeber aus hundert Prozent arbeiten, sie würde gerne wieder arbeiten, kann aber nicht, weil er sich kaum Zeit für das Kind nehmen kann. Das finde ich katastrophal.
In manchen Manifesten ist auch der Kapitalismus ein Thema. In jenem, das am 10. März von der nationalen Streikversammlung verabschiedet wurde, steht zum Beispiel: „Wir wollen eine gesellschaftliche Debatte lancieren über dieses kapitalistische Wirtschaftssystem, von dem nur eine Minderheit profitiert, während die Mehrheit der Weltbevölkerung, insbesondere Frauen, ausgebeutet wird, in Armut lebt und das Klima gefährdet ist.“ Teilt ihr auch diese Forderungen?
Anja Beven Eberle: Ja! Man muss das große Ganze anschauen.
Léonie Schubiger: Das sehe ich genauso.
Barbara Schällibaum: Mir ist das auch sehr wichtig. Ich engagiere mich schon lange politisch und habe zwar keine großen Hoffnungen mehr auf antikapitalistische Erfolge, trotzdem schlägt mein Herz immer noch sozialistisch-linksfeministisch.
Alexandra Akeret: Genau. Und wenn man das große Ganze anschaut, sind wir auch sehr schnell bei der Klimadebatte. Auch dieses Thema muss mitgedacht werden.
Ist es denn überhaupt noch ein richtiger Streik, wenn sich gewisse Berufsgattungen dafür frei nehmen müssen oder wenn die Kundgebung in St.Gallen bewilligt ist?
Anja Beven Eberle: Richtig streiken ginge anders, ja. Eigentlich geht es beim Streiken genau um das Gegenteil, das ist schon ein wenig frustrierend. Aber wenn wir die Demo nicht bewilligt hätten, wären wieder andere Probleme auf uns zugekommen. Diese teilweise Bewilligung des Streiks müssen wir wohl oder übel in Kauf nehmen, um am 14. Juni so groß aufzufahren, wie wir es geplant haben.
Barbara Schällibaum: Das war schon 1991 so. Es gab Berufsgattungen und Arbeitsorte, wo die Frauen wirklich gestreikt und andere, die sich vorab organisiert haben. Ich war damals Lehrerin und musste die Erlaubnis der Schulleitung holen. Die Bedingung war, dass ich eine Stellvertretung bereitstelle. Am Morgen hat mein Partner mit den Kindern Fussball trainiert und gespielt, am Nachmittag unterrichtete sie ein mir bekannter Werklehrer. Das war auch kein Streik im eigentlichen Sinn. In den Spitälern gestaltet sich ein Streik auch sehr schwierig. Es wird aber dieses Jahr auch dort eine Aktion geben.
Es gibt einige Berufe, in denen sich frau das Streiken nicht leisten kann. Vielfach sind es genau jene Branchen, die es am nötigsten hätten: Pflegeberufe, Detailhandel, Sexarbeit. Wie kann man sie mit ins Boot nehmen?
Anja Beven Eberle: Wir haben unter anderem Pins und violette Bandanas gemacht für den Streik. Diese könnten sie anziehen, um sich solidarisch zu zeigen. Ich weiß auch nicht so recht, was ich davon halten soll … Jedenfalls: Ich fände es super, wenn alle in ihren Organisationen etwas machen oder organisieren würden, und wenn sie nur für fünf Minuten die Arbeit niederlegen. Der Frauenstreik soll spürbar sein, auch in jenen Branchen, die es sich nicht leisten können zu streiken.
Barbara Schällibaum: Das ist ein schwieriges Thema. Vielleicht müssten wir wie beim ersten Frauenstreik „Motivationsgruppen“ entsenden, die die Frauen in den Fabriken, die Detailhandelsangestellten oder eben auch die Sexarbeiterinnen ins Boot holen.
Alexandra Akeret: Wir haben ja eine Gruppe, die genau das macht. Ich weiß den genauen Stand der Dinge nicht, aber wir suchen nach Lösungen, zum Beispiel in Form von verlängerten Pausen. Die Angst vor Jobverlust ist halt leider schon groß.
Wäre es denn für euch okay, wenn der Chef die Erlaubnis zum Streiken erteilt oder ist das auch nur eine Fortsetzung des Patriarchats?
Barbara Schällibaum: Natürlich ist es eine Fortsetzung des kapitalistischen, patriarchalen Systems – auch weil vielfach immer noch die Männer die Chefs sind. Leider geht es im Moment wohl nicht anders. Und ganz ehrlich: Wenn ich heute noch auf meinen Job angewiesen wäre, würde ich mich wohl auch nicht trauen, richtig zu streiken.
Eben. Frau muss sich das Streiken leisten können. Léonie, du bist vermutlich noch am sichersten. Außer einem Verweis kann dir nicht viel passieren.
Léonie Schubiger: Ja, es gibt wohl eine weitere unentschuldigte Absenz. Ich finde das nicht so tragisch. Am Schluss, wenn ich die Matura habe, sind meine Absenzen nicht so wichtig wie meine Erfahrungen beim Frauenstreik oder auch beim Klimastreik.
Barbara, erzähl uns ein bisschen von früher. Wie war es am ersten Frauenstreik?
Barbara Schällibaum: Es war, wie heute, schon im Vorfeld viel los. Damals gab es auch noch die traditionellen Frauendemos zum 8. März. 1991 nahm ich als Mitglied der feministischen Pädagoginnen in der Organisation für die Sache der Frau (OFRA) und in der politischen Frauengruppe (PFG) am Frauenstreik teil. Am Streiktag selber gab es einen riesigen Aufmarsch, das war super! Die Demos und Aktionen waren toll. Und im Kantipark gab es ein großes, lustvolles Fest mit Zelten, Reden, Essen und Kulturprogramm. Das ging bis in alle Nacht.
Das hat dich sicher geprägt. Was ist geblieben aus dieser Zeit?
Barbara Schällibaum: Ich war schon vorher aktiv in der Frauenbewegung, darum war es besonders schön zu sehen, wie mächtig und divers die Bewegung auf einmal war. Dass so viele Frauen den Mut gefunden haben, auf die Straße zu gehen, laut zu sein und ihre Rechte einzufordern. Damals hat auch eine große Vernetzung stattgefunden, die über lange Jahre angehalten hat.
Hast du einen Tipp für dieses Jahr?
Barbara Schällibaum: Nicht direkt … Wir sollten offen sein für die ganze Vielfalt und Bandbreite der Frauenbewegung. Schön wäre, wenn es uns gelingt, auch mit Frauen, die eine andere Vorstellung von Feminismus vertreten, ins Gespräch zu kommen.
Alexandra, du warst 17, als der erste Frauenstreik stattgefunden hat. Wie hast du ihn in Erinnerung?
Alexandra Akeret: Ich muss zugeben, bei uns war der Streik nicht wirklich ein Thema. Kürzlich habe ich mein Tagebuch aus dieser Zeit wiedergelesen – und da stand: „Heute ist Frauenstreik!“ Ansonsten kann ich nicht viel berichten. Auch in der Schule waren die Frauenrechte kein Thema. Heute, als Lehrerin, ist es mir darum umso wichtiger, die Chancengleichheit permanent im Fokus zu haben, nicht nur anlässlich des Streiks.
Wie ist das bei euch in der Schule, Léonie? Geht es im Unterricht auch um Frauenfragen?
Léonie Schubiger: Nein. Ich habe weder in Geschichte noch sonst in einem Fach etwas über Frauenpolitik oder Gleichstellung gelernt. Erst ab dem vierten Kantijahr können wir das Wahlfach Politik belegen – ich hoffe, dass spätestens dann etwas kommt!
Wenn ihr den Älteren so zuhört, Anja und Léonie, was löst das bei euch aus?
Alexandra Akeret: Als ich meine Mama gefragt habe, was sie 1991 gemacht hat, sagte sie, dass sie damals gerade erfahren hatte, dass sie mit mir schwanger sei. Leider hat sie sich überhaupt nicht für den Frauenstreik interessiert. Ich habe sie bis heute noch nicht wirklich erreichen können mit diesem Thema, das ist frustrierend – und sinnbildlich für so viele Frauen: Sie wollen nicht zuhören und haben keinen Bock auf Diskussionen. Das ist zwar ein Scheißgefühl, aber es pusht mich erst recht. Ich wünsche mir, dass sich die jungen Frauen – und auch die jungen Männer! – noch stärker mit Gleichstellung und Sexismus beschäftigen.
Léonie Schubiger: Ich bin recht stolz auf meine Mutter. Zur Politik bin ich zwar durch meine Freundin gekommen, aber meine Mutter hat auch einen wichtigen Teil dazu beigetragen. Sie unterstützt mich sehr und ich kann sie immer alles fragen.
Bleiben wir bei den Männern: Wie sollen sie sich an diesem zweiten Frauenstreik beteiligen?
Anja Beven Eberle: Egal wie, Hauptsache, sie machen etwas! Es gibt zwar eine Gruppe von solidarischen Männern in St.Gallen, aber passiert ist da meines Wissens noch nicht viel. Sie könnten zum Beispiel Flyer in den Briefkästen verteilen. Oder als Männergruppe am Bahnhof stehen und Flyer verteilen. Das wäre ein schönes Bild: Wenn auch die Männer Werbung machen würden für den Frauenstreik.
Léonie Schubiger: Als wir Flyer verteilten, hörten wir oft den Satz: „Aber ich bin ja keine Frau …“
Alexandra Akeret: Das ist offenbar ein großes Dilemma. Ich kenne viele Männer, von denen ich weiß, dass sie absolut für die Gleichberechtigung sind und diese auch leben. Trotzdem können sie nicht öffentlich hinstehen und sagen „Ich bin Feminist!“
Anja Beven Eberle: Genau darüber habe ich auch kürzlich mit einem jungen Mann diskutiert, der sich sehr stark mit dem Thema Feminismus auseinandersetzt. Er hat schlichtweg das Gefühl, er habe nicht das Recht, sich Feminist zu nennen, weil er das als patriarchal empfindet.
Alexandra Akeret: Das hat wohl auch damit zu tun, dass viele Männer aufgewachsen sind mit der Parole „Männer sind bäh, Männer sind böse, Männer sind übergriffig“. Ich verstehe, dass die Debatte schwierig ist für die Männer.
Sind sie denn erwünscht in der Planung des Streiks?
Anja Beven Eberle: In der Planung nicht, aber in der Umsetzung definitiv!
Léonie Schubiger: Das sehe ich auch so. Männer dürfen unterstützen, aber die Frauen dominieren. Uns braucht keiner zu sagen, wie Streiken geht. Das können wir sehr gut alleine.
Alexandra Akeret: Es gab große Diskussionen darüber an den Streiktreffen. Die einen wollten die Männer immer und überall miteinbeziehen, auch in der Planung, die anderen wollten die Männer nirgends dabeihaben, bei der Demo nicht und auch nicht am anschließenden Fest.
Anja Beven Eberle: Ich finde das sehr schade, denn meiner Meinung nach geht es hier um uns alle, egal welches Geschlecht und welche Herkunft wir haben. Die Probleme des Patriarchats betreffen uns alle, darum sollten wir auch gemeinsam nach Lösungen suchen. Ausschluss ist definitiv der falsche Weg.
Intersektionalität ist hoch im Kurs bei vielen jungen Feministinnen. Die Älteren sehen das nicht unbedingt so. Gibt es einen feministischen Generationen-Gap?
Alexandra Akeret: Schwer zu sagen, vielleicht ist es komplizierter. Das ganz klare Nein zu Männern im St.Galler Komitee beispielsweise kam eher von jungen Queer-Aktivistinnen.
Anja Beven Eberle: Eine junge Frau hat kürzlich gesagt: „Meine Mutter wollte schon keine Männer am Streik, also will ich das auch nicht.“ Ich fragte warum, sie konnte es nicht begründen.
Barbara Schällibaum: Ich bin wie Léonie der Meinung, dass sich die Männer solidarisch engagieren dürfen, aber den Lead sollen die Frauen haben. Sonst sind es oft die Männer, die Dinge organisieren und Seilschaften bilden, am 14. Juni sind es wir Frauen – und das soll auch öffentlich sichtbar werden.
Alexandra Akeret: Ja, das ist ein trauriger Fakt. Ich erlebe es oft auf Lehrerveranstaltungen: Man macht eine Gruppenarbeit, und wenn es ums Präsentieren geht, stehen in acht von neun Fällen die einzigen Männer in der Gruppe vorn. Da mache ich nicht nur den Männern einen Vorwurf, es sind genauso die Frauen, die sich nicht hinstellen. Auch deshalb verzichten wir in der Planung des Streiks auf die Männer, damit alle Frauen zu Wort kommen und keine eingeschüchtert ist. Und es hat auch praktische Gründe: Die Planung des Streiks erfordert sehr viel Zeit. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, alles auch noch aus Männersicht zu diskutieren. Aber nochmals an alle Männer, die sich fragen, ob sie dabei sein dürfen am 14. Juni: Auf jeden Fall, aber nicht in den ersten Reihen. Und ihr dürft auch gerne Transpis und Plakate mitbringen.
Wie können sich die Männer im Alltag stärker engagieren?
Alexandra Akeret: Sie könnten zum Beispiel mehr dafür kämpfen, dass es auch für die Männer kein Nachteil ist, Vater zu werden. Dass sie mehr Teilzeit arbeiten können, dass sie vermehrt auch Care-Aufgaben wahrnehmen können.
Barbara Schällibaum: Und achtsam sein in der Sozialisation von kleinen Kindern, in der Familie und im Umfeld. Die Männer- und Frauenrollen sind immer noch furchtbar festgefahren in den Köpfen und Institutionen. Da könnten auch die Männer mit gutem Beispiel vorangehen.
Oder sie könnten sich aktiv, am eigenen Arbeitsplatz, für Lohntransparenz und -gleichheit einsetzen. Wenn alle zusammenarbeiten, steigt der Druck auf die Institutionen.
Anja Beven Eberle: Unbedingt. Bis dato sind es ja immer wir Frauen, die „nerven“ und „mühsam sind“, wenn es um uns geht. Männer sollten nicht nur immer von Solidarität reden, sondern sie aktiv zeigen.
Léonie Schubiger: Und sie würden ja nichts verlieren, wenn sie sich für Gleichheit einsetzen würden.
Die Gesprächspartnerinnen
Alexandra Akeret, geboren 1973, ist Primarlehrerin (ab Sommer 2019 Gewerkschaftssekretärin des vpod Ostschweiz), Stadtparlamentarierin und alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern (19 und 16). Sie lebt in St.Gallen
Anja Beven Eberle, geboren 1992, studiert Soziale Arbeit (Teilzeit), ist in der Betreuung tätig und macht Politik. Sie lebt in St.Gallen.
Barbara Schällibaum, geboren 1953, ist pensionierte Lehrerin, meist aktiv bewegt, und lebt in St.Gallen.
Léonie Schubiger, geboren 2003, ist Kantischülerin mit Schwerpunkt Gestaltung und in der JUSO. Sie lebt in St.Gallen.
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Wo erlebt ihr persönlich konkrete Benachteiligungen?
Anja Beven Eberle: Ich studiere Soziale Arbeit an der Fachhochschule St.Gallen. Momentan werden Männer extrem bevorzugt bei der Vergabe der Praktikumsstellen – weil es so wenige hat. Aber es kann nicht sein, dass einer einen Job bekommt, nur weil er ein Mann ist. Vielmehr müssten wir dafür sorgen, dass es grundsätzlich wieder mehr Männer in der Sozialen Arbeit hat und diese Branche mehr geschätzt wird.
Barbara Schällibaum: Als Lehrerin habe ich zwar nicht unter Lohnungleichheit gelitten, dafür unter den Hierarchien. Die Arbeit an der Basis wird von Frauen erledigt, und je höher es in der Hierarchie an vielen Schulen und pädagogischen Hochschulen geht, desto mehr sind Männer auf den Posten der Schulleiter, Fachressortleiter, Forschungsleiter, Rektoren usw. Das hat mich schon immer gestört, auch generell an Universitäten und Lehrinstitutionen.
Léonie Schubiger: Bei uns an der Kanti [Kantonsschule] ist es genauso. Es gibt zwar viele Lehrerinnen, aber die Rektoren und Prorektoren sind überwiegend männlich.
Alexandra Akeret: In Sachen Vereinbarkeit hatte ich es immer gut, denn als Lehrerin konnte ich Teilzeit arbeiten und der Lohn hat gereicht. Was mir fehlte, waren positive Vorbilder. Mit „Vorbild“ meine ich nicht jene Frauen, die spielend alles unter einen Hut bringen, sondern Familienmodelle, wo die Verantwortung auf mehreren Schultern liegt.
Haben wir denn ein Problem mit der Nachhaltigkeit? Barbara sagt, die Stimmung 1991 war grandios, es gab ein großes Netzwerk und die Frauenbewegung hat kontinuierlich Fortschritte gemacht. Wo sind diese Vorbilder geblieben?
Barbara Schällibaum: Für uns war die Zeit in den 80ern und 90ern sehr nachhaltig. Zeitweise hatte die PFG drei Stadtparlamentssitze inne. In dieser Zeit sind auch viele Projekte, die wir mitinitiiert und unterstützt haben, entstanden; das Frauenhaus, die Frauenbibliothek Wyborada, das Ostschweizer Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte oder Wen-Do, die Selbstverteidigungskurse für Frauen und Mädchen. Irgendwann Anfang der Nullerjahre ist es gekippt. Doch die PFG ist heute noch als aktive feministische Gruppe im Stadtparlament vertreten.
Alexandra Akeret: Es ist eben trügerisch, denn vieles hat sich auch geändert. Frauen haben mittlerweile die gleichen Rechte wie Männer – theoretisch. Wenn ich mit jungen Frauen spreche, höre ich immer wieder dasselbe: „Wo ist das Problem, wir sind doch gleichberechtigt.“
Intern funktioniert es offenbar. Die Frage wäre also, wie wir auch die Frauen und Menschen außerhalb der feministischen Bubble erreichen und abholen können.
Alexandra Akeret: Das schaffen wir auch noch. Was mich fast wahnsinnig macht, ist das unsolidarische Verhalten von anderen Frauen in der Politik. Es kann doch nicht sein, dass „unsere“ Frau Bundesrätin sagt, die FDP-Frauen machen am 14. Juni ein Extraprogramm. Das ist eine Frechheit!
Barbara Schällibaum: Vielleicht ist auch einfach der Leidensdruck nicht hoch genug. 1991 haben wir für ganz konkrete Dinge gekämpft, die viele Frauen unmittelbar betrafen: gegen Lohndiskriminierung, für das Recht auf Abtreibung, für Gleichstellung in der Bildung und in den Institutionen usw.
Anja Beven Eberle: Genau. Das Thema ist diffuser geworden. Heute geht es offenbar zu vielen zu gut. Sie kapieren nicht, dass es beim Feminismus nicht nur um sie geht.
Alexandra Akeret: Und jene Frauen, die es wirklich hart trifft, die haben keine Lobby.
Barbara Schällibaum: Darum müssen wir am 14. Juni die Stadt wirklich füllen und Präsenz markieren. Und darum wünsche ich mir auch in den kommenden Jahren wieder regelmässig Demos an Frauentagen wie dem 14. Juni oder dem 8. März.
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Zum Schluss: Was kommt nach dem Streik?
Anja Beven Eberle: Erstmal ausatmen. Danach wird hoffentlich eine Auswertung folgen – und dann geht es fröhlich weiter im Kampf.
Alexandra Akeret: Genau. Der Streik ist erst der Anfang!
Interview: Corinne Riedener (Fotos: Tine Edel)
Das Interview erschien zuerst in der Juni-Ausgabe des Ostschweizer Magazins „Saiten“
Bitte mehr Sorgfalt bei der Bildrecherche! Das gelb-lila Logo der Frau mit verschränkten Armen gehört zum Frauen*streikkollektiv in Bern. Die lokalen Kollektive sind die Orte, an denen Feminist*innen, Frauen aus den Gewerkschaften und aus den sozialen Bewegungen zusammenkommen, um gemeinsam die Frauen*streikaktivitäten in der eigenen Stadt vorbereiten. Daher hat jede lokale Gruppe auch eine eigene visuelle Identität und ein eigenes Logo. Die St. Galler*innen verwenden bunte Frauenzeichen mit Faust: https://www.facebook.com/events/368468294013778/?ti=ia