Die Trotzkopf-Initiative
Wenn in der Schweiz Ende November über die „Selbstbestimmungs-Initiative“ abgestimmt wird, geht es um das Ziel der SVP, Schweizer Recht über Völkerrecht zu stellen. Dabei erinnert das Vorhaben an einen Dreijährigen, der die Cola nicht bekommen hat, die er wollte und sich deshalb jetzt auf den Boden wirft und brüllt: „Aber ich will, ich will, ich will“.
Ja, ich weiß, dieses Bild des dreijährigen Trotzkopfs ist tendenziös. Aber es beschreibt recht genau, warum die Schweizerische Volkspartei (SVP) diese „Selbstbestimmungs-Initiative“ lancierte: Sie hat nicht bekommen, was sie wollte und versucht das Ziel nun mit dieser neuen Initiative doch noch zu erreichen.
Die MEI als „Mutter aller Probleme“
2014 hatte die SVP zwar eine Mehrheit für ihre „Masseneinwanderungs-Initiative (MEI)“ bekommen, aber diese ließ sich nicht wortwörtlich umsetzen, ohne dafür die Bilateralen Verträge zwischen EU und Schweiz kündigen zu müssen. Denn das Ziel einer völligen schweizerischen Selbstregulierung jedweder Zuwanderung war/ist mit der Personenfreizügigkeit der EU nicht vereinbar, die zwingender Bestandteil der Bilateralen ist.
Das Parlament suchte und fand einen weniger strikten Weg, beiden Herren zu dienen: der MEI und den Bilateralen Verträgen. Das wiederum passte und passt der SVP überhaupt nicht. Denn eigentlich wollte sie mit der MEI die von ihr ungeliebten Bilateralen loswerden. Gleichzeitig hadert diese Partei auch nachhaltig mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der manchmal Urteile schweizerischer Gerichte korrigiert – oder von dem man weiß, dass er Verstöße gegen die Menschenrechte aufheben würde, sobald jemand klagte.
Veränderte Verfassung
Indem die „Selbstbestimmungs-Initiative“ verlangt, dass internationale Verträge gekündigt werden müssten, sollten sie Bestimmungen enthalten, die nicht mit der Schweizer Verfassung übereinstimmen, tut sie zuerst einmal so, als ob es viele solcher Verträge gäbe. Und die SVP unterstellt in ihrem Abstimmungskampf, solche Verträge seien am Volk „vorbeigeschmuggelt“ worden, weshalb der Volkswille nun dringend wieder hergestellt werden müsse. Nun ist das Problem aber in Wirklichkeit ein anderes: Angenommene Volksinitiativen werden immer Teil der Verfassung. Jede erfolgreiche Initiative ändert damit auch die Verfassung. Dadurch kann es passieren, dass Vereinbarungen in früher abgeschlossenen völkerrechtlichen/internationalen Verträgen nicht mehr der derart veränderten Verfassung entsprechen.
Um beiden Anliegen gerecht zu werden und nicht bestehende Verträge brechen zu müssen, suchen dann Parlament und Regierung Wege, beiden Anliegen gerecht werden zu können. Das verhindert in Einzelfällen die wörtliche Umsetzung von Volksinitiative. So geschehen bei der MEI, indem man nicht die Bilateralen Verträge kündigte, sondern eben die MEI-Umsetzung etwas „verbog“. Ähnlich war auch das Vorgehen bei der „Ausschaffungs-Initiative“ (auch von der SVP) und der „Initiative zur lebenslangen Verwahrung von Sexualstraftätern“ die den Richtern keinen Spielraum für eine Einzelfall-Entscheidung überlassen wollten. Vor allem die „Verwahrungsinitiative“ (dieses Mal nicht von der SVP) hätte eine Klage vor dem EGMR nicht überstanden, weil sie – bei wortwörtlicher Umsetzung – Verurteilte ohne jede weitere Überprüfung bis ans Lebensende hinter Gitter gebracht hätte.
In solchen Fällen verlangt die „Selbstbestimmungs-Initiative“ die Kündigung der Verträge, die die Schweiz zur Einhaltung früher unterschriebener völkerrechtlicher/internationaler Verträge verpflichten. Die von den Initiativgegnern – alle Parteien und Verbände außer der SVP – durch dieses Vorgehen befürchtete Rechtsunsicherheit, bestreitet die SVP.
Die Initiative schreibt außerdem vor, dass Verträge, die dem Referendum unterstellt waren, nicht von der Kündigungs-Vorschrift betroffen sein sollen. Bei Einhaltung dieser Vorschrift würde die SVP allerdings auch dieses Mal ihr Ziel verfehlen, die Bilateralen Verträge loszuwerden. Denn diese wurden tatsächlich von den Stimmberechtigten genehmigt. Vor der ersten Abstimmung sogar mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die Kündigung der Personenfreizügigkeit automatisch eine Kündigung des gesamten Abkommen nach sich ziehe.
Lieselotte Schiesser