Foucault in Münsterlingen
Nur Insidern war dies bisher bekannt: Der berühmte französische Philosoph Michel Foucault weilte 1954 ein paar Tage in Münsterlingen. Und erlebte dort eine Fasnacht des Wahnsinns.
Von Michel Foucault (1926–1984) stammen grundlegende Begriffe wie Biopolitik, Gouvernementalität und Dispositiv, die heute den politischen und philosophischen Diskurs bestimmen. Dabei geht aber vergessen, dass Foucault seine Karriere nicht als Philosoph, sondern als klinischer Psychologe begann. Bereits mit 23 Jahren erwarb er an der Sorbonne in Paris einen entsprechenden Abschluss und später auch ein Diplom als Psychiater. Anschliessend arbeitete er in Spitälern und Gefängnissen. Dort erlebte er in der Praxis, was er später in bahnbrechenden Werken wie „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961) oder „Überwachen und Strafen“ (1975) reflexiv verwertete.
In den frühen 1950er-Jahren stand das Verhältnis zwischen Vernunft und Wahnsinn im Zentrum von Foucaults Denken. Warum werden Verrückte in Kliniken eingeschlossen? Weshalb werden sie als Kranke angesehen? Ist der Wahnsinn nur eine gesellschaftliche Konstruktion oder der grundlegende Widerpart der abendländischen Vernunft? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führten den erst 27jährigen Wissenschafter am 2. März 1954 nach Münsterlingen. In die dortige Psychiatrische Klinik, die damals noch „Thurgauische Heilanstalt“ hiess.
Studium des Kreuzlinger Psychiaters Ludwig Binswanger
Foucault hatte die Werke des Kreuzlinger Psychiaters Ludwig Binswanger studiert und teils auch ins Französische übersetzt, etwa sein Werk «Traum und Existenz». Er erfuhr dabei von Dr. Roland Kuhn, dem Chefarzt der Klinik Münsterlingen. Dort war es Brauch, gemeinsam die Fasnacht zu feiern. Der ganze Betrieb machte bei diesem rituellen Fest mit, vom Chefarzt über die Pflegenden bis zu den Insassen. Alle verkleideten sich und feierten Karneval in einer grossen Maskerade. Foucault faszinierte diese Idee, und er wollte sie live erleben. Er liesss sich von Georges und Jacqueline Verdeaux begleiten. Das befreundete Paar half ihm beim Übersetzen und fotografierte gleichzeitig den Anlass.
Sein Besuch in Münsterlingen ist jetzt in dem neuen Band „Foucault à Münsterlingen. A l’origine de l’Histoire de la folie“ dokumentiert. Das Buch, vom Lausanner Soziologen und Foucault-Kenner Jean-François Bert herausgegeben, beleuchtet nicht nur ein denkwürdiges Ereignis für die Ostschweiz. Es besticht auch und vor allem durch seine schöne Aufmachung und die vielen Schwarzweiss-Fotos der Klinik-Fasnacht. Sie lassen die Faszination des Philosophen aufscheinen, die er beim Anblick des seltsam-närrischen Treibens empfunden haben muss.
Die These, die das Buch suggeriert, ist steil. Sie besagt, Foucault habe in Münsterlingen den entscheidenden Anstoss für sein Denken und insbesondere für sein epochales Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“ (Histoire de la folie à l’âge classique) erhalten. Das Erlebnis am Bodensee stehe am Beginn seiner Reflexionen zur Geschichte des Wahnsinns. Das mag durchaus sein. Allerdings ist der Philosoph in seinem Werk kaum je näher darauf eingegangen ist. Das hätte er wohl getan, wenn sein Thurgauer Erlebnis derart einschneidend für seinen Denkweg wie behauptet gewesen wäre. Sicher trifft zu, dass die kollektive Überschreitung von traditionellen Logiken und Normen, die temporäre Transformation von Identitäten sowie die Ununterscheidbarkeit von Vernunft und Wahn, wie sie in diesem Narrenfest zum Ausdruck kommen, tiefgründige Fragen aufgeworfen haben. Fragen, die Foucault später in seinem vielschichtigen Werk abarbeitete.
Foucault Besuch fiel mitten in die Anfänge der fragwürdigen Medikamentenversuche, die Klinikchef Dr. Roland Kuhn über Jahre hinweg mit seinen Patientinnen und Patienten anstellte. Kuhn verabreichte ihnen von Pharmafirmen entwickelte Substanzen in hohen Dosen zu Testzwecken. Mit teils verheerenden Auswirkungen auf ihre Gesundheit. Dieses aus heutiger Sicht ethisch fragwürdige Vorgehen eines ehrgeizigen Arztes wird im Buch recht kritiklos dargestellt. Kuhns freihändige „Menschenversuche“ hinterließen viele Opfer. Heute sind sie Gegenstand von Abklärungen, die das Thurgauer Staatsarchiv vornimmt. Die Klagen von Opfern haben dazu geführt, dass das dunkle Kapitel der Klinikgeschichte aufgearbeitet wird. Das Thurgauer Parlament hatte dafür im Mai einen Kredit von 750 000 Franken bewilligt.
Die „nette Frau Largactil“ und die „böse Frau Geigy“
Foucault sah in Münsterlingen, wie die Insassen mit Chlorpromazin-Tabletten abgefüllt wurden, dem ersten, vom Pharma-Konzern Rhône-Poulenc entwickelten Neuroleptikum. Und er hörte, dass die PatientInnen auf diese Substanz mehrheitlich positiv reagierten, während ein anderes, von Geigy hergestelltes, Antidepressivum stark negative Folgen zeitigte. In der Fasnacht verkleideten sich zwei Patientinnen denn auch als die „nette Frau Largactil“ bzw. die „böse Frau Geigy“.
Die Münsterlinger Klinik-Fasnacht, das Spektakel einer verkehrten Welt, sei die Urszene der foucault’schen Dramaturgie. Sie habe ihm auch als Spiegel für ihn selbst gedient, heißt es im Buch. Diese Erfahrung sei für ihn die „Umkehr der Umkehr“ gewesen. Das meint eine Art Selbsterkenntnis, wonach Identität nichts Unverrückbares, eindeutig Festgelegtes ist. Dies habe Foucault dazu veranlasst, seine eigene Homosexualität zu akzeptieren und auf eine bürgerliche Existenz zu verzichten. Der große Intellektuelle führte bekanntlich zeitlebens eine Schattenexistenz in der Schwulenszene.
Ralph Hug
Jean-François Bert, Elisbetta Basso (ed.): „Foucault à Münsterlingen. A l’Origine de l’Histoire de la folie“, Editions EHESS, Paris 2015, 24 Euro.