Frieda Kellers Zerstörung
Ein Kriminalfall, der sich 1904 in St.Gallen ereignete, dient der Zürcher Schriftstellerin Michèle Minelli (s. Foto) als Stoff für den eindrücklichen Roman «Die Verlorene», der im April im Berliner Aufbau-Verlag erscheinen wird. Im Zentrum steht ein Kindsmord, aber mehr noch die Zeitumstände, die ihn ermöglicht haben
Ein Aufsehen erregender Prozess fand im November 1904 in St.Gallen statt. Im Mittelpunkt stand die 25jährige Damenschneiderin Frieda Keller, Tochter eines Schuhmachers aus Bischofszell. Sie hatte im Hagenbuchwald ihren kleinen Sohn mit einer Schnur erdrosselt und verscharrt. Doch die Leiche kam zum Vorschein und Frieda Keller musste sich den Richtern stellen. Diese verurteilten sie wegen Mord zum Tode. Es folgte die Begnadigung und Frieda Keller wanderte für fünfzehn lange Jahre hinter Schloss und Riegel in der St.Galler Strafanstalt St.Jakob, die in der Nähe des heutigen Olma-Geländes stand.
Nach Verbüssung der Strafe war Frieda Keller eine gebrochene Frau. Das Trauma der Tat, aber auch ihre radikale Entblößung in der Öffentlichkeit – das Fall schlug landesweit Wellen – verunmöglichten ihr eine Rückkehr in ein normales Leben. Sie war für immer stigmatisiert und innerlich ausgebrannt. Viele Jahr schlug sie sich noch als Zimmermädchen durch. Schließlich erkrankte sie, geriet in die Mühlen der Psychiatrie und starb im Jahr 1942 einen einsamen Tod. So weit kurz zusammengefasst der Plot.
Der Ausgangspunkt des Mordes wird in Michèle Minellis historischem Roman gleich von Anfang klar. Frieda Keller wurde von einem Wirt, bei dem sie als Aushilfe arbeitete, im Keller vergewaltigt und geschwängert. Später machte sich der Täter aus dem Staub, ohne Alimente zu zahlen. Die Autorin macht deutlich, wie die damaligen patriarchalischen Gesetze solche Machenschaften noch schützten. Frieda Keller hingegen musste selber sehen, wie sie sich durchschlug. Der Vater verstieß sie, weil er die Schande einer unehelichen Niederkunft seiner Tochter nicht ertragen konnte.
Aber auch Frieda Keller selbst ertrug den ihr durch die zeitgenössischen Moralvorstellungen auferlegten Druck nicht. Die drohende soziale Exklusion veranlasste sie, ihr Kind, den kleinen Ernstli, in die «Kinderbewahranstalt» Tempelacker zu geben und ihn dort vor der Umwelt zu verbergen. Die Last, ein togeschwiegenes Kind zu haben, wurde jedoch immer größer. Ihre prekäre soziale Lage als Schneiderin mit einem geringen Einkommen trug zur wachsenden Verzweiflung bei. Die Situation eskalierte dann im fatalen Kindsmord. Frieda Kellers Suche nach ein bisschen Glück in ihrem Leben endete im Desaster und in der schleichenden Selbstzerstörung.
Dass es überhaupt so weit kommen konnte, daran waren die engen gesellschaftlichen und moralischen Verhältnisse vor dem Ersten Weltkrieg mitschuldig. Daran lässt die Autorin keinen Zweifel. Bei der Schilderung des Gerichtsprozesses, eines veritablen Justizskandals, legt sie den Finger auf eine sozial blinde, vorurteilsbeladene Männerjustiz, die dem Fall überhaupt nicht gerecht werden konnte. In einer weinseligen Runde am Rand des Prozesses wird über «Weibszimmer» wie Frieda Keller mit ihrem liederlichen Lebenswandel kollektiv der Stab gebrochen. Das einstige Vergewaltigungsopfer wird zur doppelten Täterin gemacht.
Das traurige Schicksal der Frieda Keller beruht auf Tatsachen. Michèle Minelli hat die umfangreichen Prozessakten aus dem St.Galler Staatsarchiv durchgearbeitet und darüber hinaus mit zahlreichen Fachpersonen gesprochen. Diese ausführliche Recherche erlaubte ihr die Einbettung des Stoffs in einen historischen Roman, der anhand von fiktiven, aber durchaus reellen Dialogen und Szenen aufzeigt, wie Frieda Keller, die Verlorene, durchs Leben ging und dabei scheiterte. Das ist spannend und einfühlsam geschrieben. Gewisse Manierismen muss man der Zürcher Autorin nachsehen.
Michèle Minelli (ja, sie ist die Tochter des bekannten Rechtsanwalts und Sterbehelfers Ludwig A. Minelli) ist eine Spezialistin für historische Stoffe. Sie hat vor drei Jahren unter dem Titel «Die Ruhelosen» eine europäische Familiensaga verfasst. Zuvor gab sie einen Band mit Porträts von Engagierten im Asylbereich heraus. Vor zwei Jahren schließlich verfasste sie unter dem Titel «Kanalleiche» eine Kriminalroman, der in Zürich spielt. Für regionale Leserinnen und Leser ist ihr neuestes Werk auch deshalb von Interesse, weil sich die Schauplätze in Bischofszell und in der Stadt St.Gallen befinden.
Die Autorin sagt, sie sei nicht zum Stoff, sondern der Stoff zu ihr gekommen. Ein befreundeter Journalist stand eines Tages vor der Tür und übergab ihr ein Dossier: «Ich habe da etwas für dich.» Es war eine Geschichte, die geschrieben werden musste. Und Michèle Minelli tat, was sie tun musste.
Autor: Ralph Hug
Michèle Minelli: Die Verlorene. 440 Seiten. Aufbau-Verlag Berlin 2015, 24,95 €, 35,50 Sfr